Aerztekind
werfen zu dürfen. Großzügig und mit einem gönnerhaften Lächeln übergab ich die Abenteuer aus Entenhausen dann an meine Schwestern, die sofort zu streiten anfingen, wer zuerst darin lesen durfte, während ich mir den Gameboy schnappte und mich aus dem Staub machte.
Wir saßen also auf der Rückbank und stritten uns in bester Manier darum, wer wo sitzen durfte. Da sagte ich plötzlich: »Wisst ihr, es ist ja so – es gibt zwei Plätze, das sind die allerallerbesten im ganzen Auto, aber ihr beiden seid die Einzigen, die sich dort hinsetzen können!«
Schweigen.
Meine Schwestern hingen an meinen Lippen.
»Die Kuhle hinter dem Fahrer- und Beifahrersitz, da habe ich früher immer am liebsten gesessen. Ich habe mir ganz viele Kissen da reingelegt, und dann war das wie ein kleines Nest, und keiner hat mich gesehen.«
Anne und Juliane warfen sich vielsagende Blicke zu. Der Fisch hatte den Köder gefressen!
»Also, du würdest auch gerne da unten drinliegen?«, fragte Juliane, und ich bejahte wild mit dem Kopf nickend.
Meine Schwestern ließen sich nicht lange bitten. Sie rannten schreiend und lärmend zurück durch den Schnee ins Haus und kamen nur eine Minute später mit zwei dicken Daunenkissen zurück, die sie in die Fußräume hinter dem Fahrer- und Beifahrersitz stopften. Dann quetschten sie sich in die Federn und mummelten sich in zwei Decken ein, die ich ihnen zuvorkommend von der Rückbank, auf der ich es mir nun in voller Länge bequem machen konnte, anreichte.
»Voll schön!«, wisperte Juliane, und Anne grinste ihr mit glänzenden Augen zu.
Ich gratulierte mir selbst zu meinem Coup und griff nach dem Gameboy.
Wir hatten circa eine Stunde im Wagen gewartet, als Anne und Juliane zu jammern anfingen, sie hätten Hunger und müssten aufs Klo. Also verließ ich meinen mühsam erkämpften Logenplatz – jedoch nicht ohne mir von meinen Schwestern hoch und heilig versprechen zu lassen, dass wir die Sitzordnung nach meiner Rückkehr beibehalten würden.
Dann zog ich mir meine Moonboots wieder an, die ich in der Gewissheit, dass es jeden Moment losgehen würde, bereits von den Füßen gestreift hatte, und machte mich auf den Weg ins Haus. Wenn man die große Schwester ist, bleibt einem nämlich gar nichts anderes übrig, als die Verantwortung zu übernehmen und – wie in diesem Falle – durch die Kälte zu stapfen und nach den verschollenen Erziehungsberechtigten zu suchen. Tut man es nicht, hat man fünf Minuten später zwei heulende Schwestern im Arm. Daher lieber gleich Augen zu und durch.
In der Wohnung meiner Eltern im ersten Stock unseres Hauses fand ich niemanden. Ich lief die Treppe wieder hinunter und ging in die Praxis, dort entdeckte ich meine Mutter und meinen Vater, die sich tief über die linke Gesichtshälfte einer älteren, auf der Seite liegenden Dame beugten, oder besser gesagt: über das, was davon noch übrig war, und versuchten, aus dem Geschnetzelten, das sich dem geneigten Betrachter offenbarte, wieder so etwas wie ein menschliches Körperteil herzustellen.
»Ach, du lieber Himmel«, sagte meine Mutter, als sie mich im Türrahmen stehen sah. »Euch habe ich ja total vergessen!«
Na prima. Sie hatte uns vergessen, wegen dieser ollen Trulla! Immerhin war sie geständig.
Ich trat einen Schritt näher an die Liege heran und begutachtete, woran meine Eltern arbeiteten.
»Hallo, du«, sagte das Corpus Delicti. »Ich bin Frau Schröder. Tut mir leid, dass sich meinetwegen eure Abfahrt in den Urlaub verschiebt.«
Frau Schröders linkes Ohr war mehr oder weniger hinüber. Wie sie mir erzählte, während mein Vater acht Meter Faden an ihr vernähte, war sie bei dem Versuch, das Kruzifix über ihrer Küchentür gerade zu rücken, vom Stuhl gestürzt und ungünstig auf die Tischkante gefallen. In einer sehr unglücklichen Kettenreaktion hatte sie dabei einen Teller, der auf dem Tisch stand, mit zu Boden gerissen und sich an den Scherben verletzt. Der Teller war offensichtlich nicht leer gewesen, denn an Frau Schröders Wange klebten noch ein paar Fetzen Sauerkraut.
»Ist aber halb so schlimm«, sagte Frau Schröder und lächelte mich anscheinend gut anästhesiert an. »Bei mir kommt’s ja nicht mehr drauf an, dass es schön aussieht.«
»Caro«, unterbrach meine Mutter das nette Geplänkel, »nimm die zwei Kleinen und setzt euch vor den Fernseher. Gummibärchen sind im Schrank, ihr dürft euch nehmen, so viel ihr wollt. Bis wir mit Frau Schröder fertig sind, wird es noch dauern. Wenn
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