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Aerztekind

Aerztekind

Titel: Aerztekind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carolin Wittmann
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Sprechstundenhilfe später abtippte, war ich ein ganz kleines bisschen enttäuscht.
    Als ich in die Schule kam und Lesen lernte, verschwanden auch die letzten Reste meiner Faszination für Medizin und mein Interesse für die Arbeit meines Vaters. Lesen und Schreiben, das war von Anfang an genau mein Ding. Ich musste mich nicht bewegen, lag oder saß die meiste Zeit bequem und wurde dabei angenehm unterhalten. Kiloweise trug ich Bücher in einer Umhängetasche aus Jute von der Stadtbibliothek nach Hause und in der nächsten Woche wieder zurück, um mit derselben Menge Lesestoff erneut den Heimweg anzutreten. Nachts lag ich oft heimlich unter der Bettdecke und verlor mich im zittrigen Licht meiner Taschenlampe in den Abenteuern vom kleinen Mann Mäxchen Pichelsteiner, Bille und ihrem rotgescheckten Pony Zottel oder George, Julian, Dick, Anne und Timmy, den fünf besten Freunden der Welt.
    Weil ich nun keine Zeit mehr hatte, als Stenografin in der Praxis meines Vaters zu arbeiten, kam ich nur noch nach unten, wenn ich selbst behandelt werden musste. Das war meistens nicht besonders angenehm, weder für meinen Vater noch für mich, deswegen versuchten wir beide, derartige Zusammentreffen auf ein absolutes Minimum zu beschränken. Was erklärt, warum ich chronisch unterimpft war.
    Doch eine Behandlung durch meinen Vater ließ sich nicht immer vermeiden. Einmal, als ich mich nach einer wilden Verfolgungsjagd mit Juliane durch die komplette Wohnung mit einem beherzten Sprung aufs Sofa zu retten versucht und mir dabei eine Nagelschere, die meine Mutter zwischen den Sitzkissen verloren hatte, mit der Spitze voran in den Bauch gebohrt hatte, war selbst ich sofort davon überzeugt, dass ein Arzt hermusste bzw. ich schleunigst Papa suchen sollte. Ich erinnere mich gut daran, wie ich schweigend, in Unterhemd und Unterhose und mit einem blutigen, sich langsam nach allen Richtungen hin ausbreitenden roten Fleck auf dem Stoff vor ihm stand, die Nagelschere in der Hand. Ich habe erst zu weinen angefangen, als mein Vater, der am Küchentisch gesessen und in einer seiner eigenartigen Zeitschriften mit den unappetitlichen Bildern darin geblättert hatte, mich wie eine Braut auf die Arme hievte und kommentarlos auf direktem Weg ein Stockwerk tiefer über die Schwelle seiner Praxis trug. Dort schaltete er die furchteinflößende OP -Lampe mit den fünf Birnen an, die wie gierige Insektenaugen auf mich herabsahen, und richtete den Lichtstrahl genau auf meinen Bauchnabel. Meine Mutter, die uns mit aschfahlem Gesicht stillschweigend gefolgt war, die beiden Kleinen im Schlepptau, streichelte mir zärtlich über den Kopf und flüsterte mir zu, ich solle mich jetzt bloß nicht aufregen.
    »Mama, Finger weg, das ist jetzt was für den Papa!«, krähte meine Schwester Juliane und drängelte sich nach vorn, um keine Sekunde des blutigen Gemetzels zu verpassen.
    Anne, die nicht nur selbst oft aus der Nase blutete, sondern zu allem Überfluss auch kein Blut sehen konnte (eine Art Perpetuum mobile, dessen unweigerliches Ende nur die Ohnmacht sein konnte), schlug sich ängstlich die Hände vor die Augen.
    Das brachte mich total aus der Fassung. Ich schrie, warf meinen Körper herum wie Miss Emily Rose bei ihren exorzistischen Ritualen, fuchtelte mit den Armen und schimpfte wie ein Rohrspatz. Erst als mein Vater meine Mutter anwies, sie solle meine Arme festhalten, und mir je eine Schwester auf einen meiner wild zuckenden Oberschenkel setzte, beruhigte ich mich.
    Acht neugierige Augen beobachteten, wie mein Vater behutsam mein Unterhemd nach oben zog. Meine Schwestern ließen sich keinen Moment des grausigen Schauspiels entgehen, immerhin waren sie diejenigen, die in der Regel von mir gepiesackt und gepeinigt wurden, da ich die Älteste und (jedenfalls im Vergleich zu Anne) mindestens doppelt so Schwere war. Nun starrten alle auf das Loch, das sich nur wenige Zentimeter neben meinem Bauchnabel in die Haut gebohrt hatte und aus dem ein dünnes, aber stetiges Rinnsal Blut hinauslief.
    Mein Vater klopfte mir vorsichtig die Bauchdecke ab. Ich hielt vor lauter Angst, dass er etwas hören würde, das nicht dem Normalzustand entsprach, die Luft an.
    »Keine inneren Verletzungen«, sagte er dann. »Du hast Glück gehabt, Schatz, das hätte auch in die Hose gehen können.«
    Vor lauter Erleichterung, dass ich nicht sterben musste, fing ich wieder an zu weinen und setzte zu einem fulminanten Crescendo an, als ich das Nahtbesteck sah.
    Meine Mutter, die meine

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