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Aerztekind

Aerztekind

Titel: Aerztekind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carolin Wittmann
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des weiblichen oder männlichen Beckens oder die Einzelteile eines Gehirns – das war unser ganz persönliches Puzzletraining. Und nicht selten kam es vor, dass sich meine Schwestern und ich um die kleine Plastikmilz oder den gelb eingefärbten Hypothalamus stritten, während mein Vater an seinen Patienten herumdokterte und uns zur Ruhe mahnte: »Jule, leg das Kleinhirn wieder hin, jetzt ist die Caro an der Reihe.«
    Es gab seltsam anmutende Instrumente, spitze und stumpfe, glänzende und schimmernde Gegenstände, massenhaft Rezeptblöcke in allen Farben des Regenbogens, brummende Sterilisationsgeräte, summende Blutzentrifugen und allerlei andere Dinge, die uns Kindern Rätsel aufgaben. Wo ging das Blut hin, nachdem es aus dem Körper in ein kleines Plastikgefäß gezogen worden war? Wenn man wie Frau Heuer jeden zweiten Montag zum Blutabnehmen kam, war man dann nicht irgendwann leer? Was war der Unterschied zwischen den rosafarbenen und den gelben Zetteln, mit denen manche der Leute, die meinen Vater so zahlreich besuchten, in der Hand verschwanden? Warum wollten überhaupt so viele Leute unseren Papa sehen? Wir hatten viele Fragen. Und trauten uns oft nicht, sie zu stellen, weil wir instinktiv spürten, dass unser Vater jemand war, den man bei seiner wichtigen Arbeit besser nicht störte.
    Mein Vater war mein größter Held. Wenn ich wieder einmal einen Nachmittag in der Praxis verbrachte, schlich ich mich oft in den Behandlungsraum 2 und versteckte mich hinter dem EKG -Gerät, um keinen Augenblick seines heldenhaften Einsatzes am Patienten zu verpassen. Stundenlang konnte ich ihm dabei zusehen, wie er Blutdruck maß. Eine gute Vorbereitung für die wenig später folgende Festanstellung als Stenografin.
    Ich liebte das dumpfe Klirren, das entstand, wenn er, bevor er eine Spritze aufzog, mit seinem Zeigefinger zweimal vorsichtig gegen die Glasampulle schnippte. Die Spatel, mit denen er den Patienten, denen er in den Rachen schauen musste, die Zunge runterdrückte, klaubte ich am Ende des Tages heimlich aus dem Mülleimer und schmuggelte sie unter dem T-Shirt in die Wohnung, wo ich sie in einem geheimen Versteck hinter dem Bett als Trophäen hortete.
    Das spannendste Instrument der ganzen Praxis war für mich jedoch das Stethoskop. Manchmal, wenn ich ihm bei dem Versuch, meine geschwollenen Mandeln zu untersuchen, nicht auf den Finger gebissen hatte, erlaubte mir mein Vater, mein eigenes Herz damit abzuhören. Fasziniert von dem rhythmischen Schlagen konnte ich minutenlang auf der Behandlungsliege geparkt werden, während mein Vater in stoischer Gelassenheit mit seiner winzigen, vollkommen unleserlichen Schrift seinen Befund in meine Krankenakte kritzelte. Die sehr dünn war. Denn ich wurde selten krank genug, um mich in ärztliche Obhut begeben zu müssen. Wenn er mich dann aber doch einmal behandelte, dann konnte man sicher sein, dass er der Kasse garantiert den vollen Wochenend- und Nachtzuschlag berechnete.
    An richtig guten Tagen, wenn ich mich nicht danebenbenommen, nicht genervt und nicht gequengelt oder die komplette Praxis zusammengebrüllt hatte, weil er mir gerade einen angetrockneten Verband vom Knie zog, durfte ich während der Behandlung eines Patienten sogar im Zimmer bleiben – die vielen Stammpatienten kannten mich sowieso schon aus dem Wartezimmer, wo es eine Spielecke für uns Kinder gab. Aber nun saß ich an dem Kindertisch gegenüber des Schreibtisches meines Vaters, einen Berg Papier und Malstifte vor mir, und tat so, als sei ich die wichtige Assistentin, die die wichtige Arbeit dieses wichtigen Mannes protokollierte. Wenn mein Vater gute Laune hatte, drehte er sich während seiner Untersuchung manchmal zu mir um und sagte: »Caro, hast du das notiert? Herr Rübsal hat einen zu hohen Blutdruck.«
    Ich nickte ihm dann hochkonzentriert zu und beugte meinen Kopf weit über das Papier, um aufzuschreiben, was er mir diktiert hatte.
    Nicht, dass ich schreiben konnte. Aber mir war klar, dass ihm jemand zur Hand gehen musste, wenn meine Mutter, eine ausgebildete Physiotherapeutin und damit (wie Anästhesisten, Dermatologen, Psychiater und Pharmazeuten) zum Berufsstand der »unechten Ärzte« gehörend, schon an der Anmeldung saß und die Organisation des Ladens übernahm.
    Das war natürlich nicht ihre einzige Aufgabe. Um die Mittagszeit hastete sie stets nach oben in die Wohnung, zauberte etwas aus der Tiefkühltruhe hervor und stellte sich an den Herd. Meistens wurde sie jedoch, noch bevor sie mit

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