Aerztekind
Arme festhielt, redete beruhigend auf mich ein, und als ich endlich damit aufhörte, meinen Vater anzuspucken, nähte er mit zwei kleinen Stichen das Loch in meinem Bauch wieder zu und hielt mir zum Trost und weil ich fast brav gewesen war, das große Glas mit dem Kinderspielzeug aus Behandlungszimmer 1 hin.
Meine Schwestern durften sich an diesem Tag gleich zwei Sachen aus dem Gefäß aussuchen, weil sie meinem Vater mit ihrem vollen Körpereinsatz so vorbildlich assistiert und nicht geweint hatten und selbst Anne beim Anblick des Blutes nicht in Ohnmacht gefallen war.
Die Narbe über meinem Bauchnabel wurde im Laufe der Jahre erst schweinchenrosa, dann weiß. Ich trage sie stolz, wie ein Indianer den Skalp seines Gegners, denn dieser Vorfall ist bis heute der einzige, bei dem mein Vater Nadel und Faden an die eigene Tochter anlegen musste.
Bis auf die gelegentlichen harmlosen bis ungefährlichen Verletzungen, die Kinder sich nun mal zuziehen, wenn ihnen ein schwerer Tisch, den sie gemeinschaftlich auf die Seite gehievt haben, um eine Bühne für ein improvisiertes Kasperltheater zu bauen, umkippt und auf die große Zehe donnert, war ich bis in die Pubertät wirklich selten krank.
»Das bisschen Husten hat noch niemanden umgebracht«, pflegte mein Vater immer zu sagen. Und auch beim Impfen war er eher zögerlich: »Es ist erwiesenermaßen wichtig, als Kind die Windpocken gehabt zu haben, denn als Erwachsener kann das ganz schön hässlich werden.«
Mit großen Augen hörten Jule und ich eines Abends zu, als er von seiner Patientin Frau Geigenbauer erzählte, die als Kind nie die Windpocken gehabt und sich dann als Erwachsene angesteckt und wochenlang im Krankenhaus gelegen hatte.
»Die hatte sogar Windpocken im Mund, könnt ihr euch das vorstellen?«, sagte Papa in seiner besten Geschichtenerzählerstimme, und uns stockte der Atem bei der Vorstellung. »Also seid schön lieb, Jule und Caro, und legt euch jetzt mal eine halbe Stunde zu Anne ins Bett. Die hat nämlich die Windpocken. Und wenn ihr sie auch bekommt, dann müsst ihr nicht wie Frau Geigenbauer ins Krankenhaus.«
Juliane und ich sahen uns an. Ins Krankenhaus wollten wir aber unbedingt, denn als Anne letztes Jahr dort gewesen war, um die Mandeln herausoperiert zu bekommen, hatte sie danach eine Woche lang so viel Vanilleeis essen dürfen, wie sie wollte. Wir wollten auch Vanilleeis ohne Ende, deswegen versuchten wir, aus dem Bett zu klettern und uns an unserem Vater vorbeizudrücken, der uns jedoch mit zärtlicher Gewalt wieder zurückschob und zu Anne, deren Körper vollständig mit roten juckenden Pusteln übersät war, unter die Decke steckte.
»Wer sich zuerst mit Windpocken angesteckt hat, kriegt was aus dem Spielzeugglas aus Behandlungszimmer 1!«
Das war ein ernst zu nehmendes Angebot. Juliane und ich beratschlagten uns flüsternd über der fiebrigen Stirn unserer Schwester, wogen die Vorzüge von Vanilleeis und dem Inhalt des Spielzeugglases gegeneinander ab, dann nickten wir stumm meinem Vater zu und besiegelten das Abkommen mit Indianerehrenwort und Spucke drauf.
Mein Vater warf uns allen dreien eine Kusshand zu, sagte noch: »Ich darf mich nämlich nicht anstecken, ich hatte nie Windpocken!«, und stand auf. Meiner Mutter, die gerade mit einer neuen Runde Wadenwickel ins Kinderzimmer kam, raunte er zu: »Ruf mal die Hübners an, Gerdi, die sollen ihre Kinder auch vorbeischicken.«
Mittlerweile sind Windpockenpartys wegen gefährlicher Körperverletzung verboten. In den Achtzigerjahren jedoch hatte sich die Praxis eingebürgert, die Brut bei den ersten Anzeichen einer beginnenden Varizellenepidemie gemeinsam in einen Raum einzuschließen, das Ganze circa dreißig Minuten bei mittlerer Hitze gut durchgaren zu lassen und die infizierten Kinder anschließend für mehrere Tage zu Hause zu pflegen. Ich selbst wurde nie zu solch einer Party eingeladen, denn die Order meines Vaters, uns an Anne anzustecken, trug schon wenige Tage später Früchte. Juliane und ich sahen fürchterlich aus, und meine Mutter schoss ganz viele Fotos von uns, wie wir von Kopf bis Fuß mit roten Pusteln übersät und mit leidenden Gesichtern im Badezimmer stehen und uns gegenseitig kratzen.
Geschadet hat mir das heute etwas rabiat wirkende Vorgehen nicht. Mit Mitte zwanzig habe ich einmal Gürtelrose bekommen und bei dieser Gelegenheit auch erfahren, dass das derselbe Erreger ist wie bei den Windpocken. Meine Gürtelrose war nach zehn Tagen und ein bisschen Juckerei
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