Aeternum
Bildschirm leuchtete auf. Jul riss den Blick vom Fernseher los und senkte ihn auf den kleinen Computer in Karins Schoß. Ein Klick startete ein bereits geladenes Video.
Die Qualität war schlecht, doch man sah eindeutig einen U-Bahnsteig. Die Kamera schwenkte zur Wand, zeigte hässlich grüne Kacheln und ein Werbeplakat, von dem eine Frau mit unnatürlich weißen Zähnen auf die Gleise herablächelte. In einer Ecke hing das Papier in Fetzen herab. »Alexanderplatz« stand auf einem altertümlich anmutenden Schild daneben.
Jul beugte sich weiter vor. Erst nach einem Moment erkannte er, dass die Kacheln und auch das Plakat zitterten, Wellen schlugen, als bestünden sie aus Wasser, das aus irgendeinem Grund beschlossen hatte, die Gesetze der Schwerkraft zu ignorieren. Der Anblick erinnerte ihn an das Flimmern, das er erst vor kurzer Zeit unter dem niederen Dämon im Tunnel gesehen hatte.
Dann, mit einem Mal, reparierte sich das Plakat wie von Geisterhand selbst. Die zerfetzte Ecke fügte sich wieder zusammen, bis sie wirkte wie neu. Die Farben strahlten immer kräftiger, als würde der darauf abgelagerte Dreck einfach verschwinden. Erneut musste Jul daran denken, wie der totgeglaubte Dämon wieder aufgestanden war. Als hätte auch ihn irgendetwas … repariert. Karins Aufregung sprang auf ihn über. Wenn das stimmte … falls so etwas wirklich möglich war … erklärte es einiges.
Doch dann stutzte Jul, denn im nächsten Moment hing an derselben Stelle, an der gerade noch die Zahnpasta-Frau gelächelt hatte, ein anderes Plakat. Jul blinzelte. Warum dieser Wechsel? Noch ehe er eine Antwort darauf finden konnte, geschah es schon wieder. Und wieder. Immer schneller folgte Plakat auf Plakat. Kurz erhaschte er einen Blick auf die Zeichnung einer Frau in einer Tracht, die, soweit er wusste, schon seit ein paar Jahrzehnten nicht mehr in Mode war. Dann wurde die Abfolge zu schnell, um ihr noch folgen zu können.
Im nächsten Moment war das Plakat ganz verschwunden, ebenso wie die Kacheln, als hätte beides nie existiert. Ein kreisrunder Fleck Beton kam dahinter zum Vorschein, der vom Durchmesser genau der Stelle entsprach, an der die Wellen über die Wand gerollt waren. Das Bild zitterte, der Mensch, der die Kamera hielt, schien zurückzuweichen.
Ein Grollen drang scheppernd aus den Lautsprechern des Laptops. Für eine Weile waren nur noch verwischte, grüne Schemen zu sehen. Ein Mann fluchte, irgendjemand schrie, lang und schrill. Die Kamera filmte ein Paar Turnschuhe, Füße, die eilig eine Treppe hinaufliefen.
»Weg hier!« Die Stimme klang panisch. Dann Sonnenlicht. Für einen Moment zeigte das Bild die Planeten der Weltzeituhr. Sie schwankten an ihren Drahtaufhängungen. Die Kamera schwenkte weiter zu dem Brunnen in der Mitte des Alexanderplatzes. Im Pflaster darum bildete sich eine Delle, langsam, als hätte sie alle Zeit der Welt. Dann endete das Video abrupt.
Für einen Moment verharrte Jul reglos. Vor seinem inneren Auge erschienen wieder die verängstigten Gesichter der Menschen im U-Bahnhof in der Klosterstraße. Sie hatten es erst nach dem Ende des Bebens an die Oberfläche geschafft. Nur ein paar Stationen weiter hätte das Beben für viele dieser Menschen den Tod bedeutet.
Er schluckte, glaubte wieder den Druck des Betons auf seiner Brust zu spüren. Mit einem Mal ahnte er, was es bedeuteten musste, sterblich zu sein. Dem also sahen die Menschen Tag für Tag ins Auge. Es war kein schönes Gefühl.
Mit der Erkenntnis kam auch das Mitleid zurück. Sicher hatten nicht alle Leute unter dem Alexanderplatz so viel Glück gehabt wie der Mann, der dieses Video gefilmt hatte. Wie viele Menschen mochten in dem Krater, den die Nachrichten zeigten, unter den Trümmern liegen?
Karin drehte den Kopf, um zu ihm hochzusehen, und nun erst bemerkte Jul, wie weit er sich über die Sofalehne gebeugt hatte. Eilig richtete er sich wieder auf.
Seine Mitbewohnerin bedachte ihn mit einem ungewohnt durchdringenden Blick. »Du weißt etwas darüber, oder?«
»Über diese Wellen?« Sein Gesichtsausdruck war offensichtlich leicht zu lesen gewesen. »Nicht viel, aber ich habe etwas Ähnliches heute in der Klosterstraße gesehen. Allerdings kleiner.«
»Das kann nicht alles sein.« Karin sah ihn vorwurfsvoll an. »Ich bin nicht blöd, weißt du? Hier ist seit einer Weile irgendwas faul. Erst tauchen diese abartigen Horror-Monsterratten auf.« Sie zählte die einzelnen Punkte an den Fingern ab. »Dann kommst du aus dem Nichts
Weitere Kostenlose Bücher