Aeternum
sie alles sah, wusste und fühlte, was der Herr je gesehen und gedacht und gefühlt hatte?
Amanda sah auf, schluckte. »Sechstausend Jahre?«
Jul nickte. In Gedanken überbrückte er die weite Kluft der Jahrtausende, zerrte angestaubte Erinnerungen ans Licht, an die er seit Ewigkeiten nicht mehr gedacht hatte. »Zu Anfang, kurz nach meiner Entstehung, hatte ich kein Gefühl für Zeit, und ich habe abgesehen vom Garten Eden nichts von der Erde gesehen. Außerdem weiß ich nicht, wie viel Zeit zwischen dem Aufstieg des Herrn und der Erschaffung der Engel vergangen ist. Ich dachte immer, er wäre so alt wie das Universum, aber nun würde ich etwas vorsichtiger schätzen. Sechstausend Jahre sind es mindestens, wahrscheinlich mehr. Wenn dir von ungefähr dreißig Jahren Erinnerungen schon der Kopf schwirrt …«
Er ließ den Satz unvollendet, sah in Amandas Miene, dass sie verstand, was er meinte. Sie biss sich auf die Unterlippe, senkte den Blick. Doch dann schüttelte sie den Kopf und machte eine Bewegung, als wollte sie seine Bedenken wegwischen. »Ich werde damit schon irgendwie klarkommen.«
Sie setzte sich in Bewegung, doch er streckte eine Hand aus, hielt sie fest. Gab es denn wirklich keine andere Möglichkeit? Konnte er nicht irgendwie sie und den Herrn vor dem bewahren, was sie vorhatte? »Du musst das nicht tun.«
Ihre Augen verengten sich zu wütenden Schlitzen. Aber lag nicht auch noch etwas anderes in ihrem Blick? Angst? »Ich sehe sonst niemanden, der sich freiwillig meldet. Und ich wette, Balthasar hat mir auch nicht den Gefallen getan, sich ein Flammenschwert durch den Kopf gehen zu lassen.«
»Ich fürchte nicht.« Weitere Worte lagen Jul auf der Zunge. Er blickte in Amandas grüne Augen, sah Anspannung in ihrer Miene. Sie hatte die Hand so fest um den Griff des unseligen Messers geschlossen, dass ihre Knöchel weiß hervortraten. Ihre letzte Hoffnung, an die sie sich mit verzweifelter Kraft klammerte. Jul schluckte hinunter, was er hatte sagen wollen. Wozu seine Zweifel aussprechen, wenn es längst kein Zurück mehr gab? Er hatte diesen Weg gewählt, als er Michaels Angebot ausgeschlagen hatte. Nun musste er ihn zu Ende gehen.
»Wir können das Gebäude nicht verlassen, solange draußen so viele Engel herumfliegen. Wir sollten uns ein Versteck suchen, bis sie fort sind.«
*
Es gab mehr als ein Treppenhaus in diesem Gebäude. Sie suchten sich das abgelegenste, schlichen die Stufen hinab, Jul voran, die Hand am Schwert. Jeden Moment rechnete er damit, dass eine der Türen aufflog und Michael ihnen in den Weg trat. Oder, schlimmer noch, ein Seraph.
Sie erreichten den Keller unbehelligt, verkrochen sich in einem Raum, der Jul an die kleine Kammer unter dem Alexanderplatz erinnerte, in die sie vor den anstürmenden Horden niederer Dämonen geflohen waren. Die Wände waren kahl, Kabel und Rohre liefen an ihnen entlang und über die Decke. Einige davon mündeten in einen großen Heizkessel, der den Raum beherrschte.
Im unsteten Licht seines Flammenschwertes ließ Jul sich gegen die Wand sinken. Doch er konnte kaum stillsitzen, suchte vergeblich nach einer gemütlichen Position. In den letzten Jahren hatte er nichts getan, als vor sich hin zu dämmern und abzuwarten. Nun erschien es ihm beinahe unerträglich, für eine Weile zur Untätigkeit verdammt zu sein. Und die Präsenz der Waffe, die nun wieder in Amandas Schoß lag, kratzte am Rand seines Bewusstseins, hielt ihm ständig vor Augen, worauf er sich eingelassen hatte.
Er legte das Schwert neben sich auf den Boden, behielt die Hand am Griff, damit die blauen Flammen nicht erloschen. »Ich wünschte, wir könnten dies schnell hinter uns bringen. Doch es wird nicht leicht werden, wieder unter den Krater zu gelangen.«
Amanda biss sich nachdenklich auf die Unterlippe. »Vielleicht durch einen der U-Bahn-Tunnel.«
Jul schüttelte den Kopf. »Die meisten werden verschüttet oder gesperrt sein. Es würde ewig dauern, einen zu finden, der uns dorthin führt, wo wir hinwollen. Am besten wäre, wir nehmen den Weg, auf dem wir das letzte Mal rausgekommen sind.«
»Wir müssen einen dieser vergessenen Götter oder niederen Dämonen oder was auch immer finden, damit Luzifer durch ihn erfährt, dass wir die Waffe haben.« Sie senkte den Blick auf die Steinklinge. »Vielleicht kann er uns helfen.«
»Es gefällt mir nicht, dass wir uns auf ihn verlassen müssen.«
Amanda nahm das Messer auf, drehte es zwischen den Händen. Dann hob sie den Blick wieder,
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