Aeternum
weil sie einen Bogen schlugen, um nicht über die Museumsinsel zu müssen, auf der der Dom stand. Während sie die Spree über die Friedrichstraße überquerten, spähte Amanda immer wieder in den Himmel. In der Ferne glaubte sie die Engel zu sehen, deren Kommen Juls Freund angekündigt hatte, helle Punkte vor dem blauen Himmel. Konnten sie die beiden Gestalten auf der Brücke ausmachen? Hier oben waren sie vollkommen ungeschützt vor neugierigen Blicken. Ahnten sie, dass ihnen ihre Beute soeben entkam? Es schien Ewigkeiten zu dauern, bis Amanda endlich in den schützenden Schatten der Häuser auf der anderen Seite eintauchte. Selbst wenn die Engel sie gesehen hatten, hier würden sie nicht mehr so leicht zu finden sein.
Jul bog nach rechts ab, und Amanda folgte ihm. Sie gingen mitten durch das Wohngebiet westlich des Alexanderplatzes. Die Straßen lagen wie ausgestorben da. Dieser Teil von Berlin wirkte wie eine Geisterstadt, nur hin und wieder fanden sie Hinweise auf Menschen. Ein Vorhang, der sich hinter einem Fenster bewegte. Blaulicht hinter einer Ecke, um das sie einen Bogen machten.
Schweigen hing den ganzen Weg über zwischen ihnen wie eine unsichtbare Wand. Seit dem Gespräch im Keller des Internationalen Handelszentrums hatten sie kaum ein Wort gewechselt.
Amandas Gedanken kehrten dorthin zurück. Was Jul gesagt hatte, war recht eindeutig gewesen. Er traute ihr nicht zu, dass sie mit gottgleicher Macht umgehen konnte. Wenn sie ehrlich war, tat sie das selbst nicht, doch was sollte sie schon machen? Beschließen, die Welt nicht zu retten, weil etwas schiefgehen könnte? Ihren Bruder im Stich lassen? Ganz sicher nicht. Amanda trat im Gehen nach einem Stein, lauschte darauf, wie sein Klappern von den Wänden widerhallte. Sie musste es zumindest versuchen.
Das Schweigen zwischen ihnen drückte mit dem Gewicht all der Dinge auf sie nieder, die unausgesprochen geblieben waren. Was würde Jul tun, falls etwas schiefging? Wollte sie darüber überhaupt nachdenken? Vielleicht war es besser, wenn sie nicht erfuhr, was genau in seinem Kopf vorging. Sie musterte ihn von der Seite, seine verschlossene Miene, die Hand am Griff des Schwertes. Ja, das war ohne Zweifel besser. Sie hatte schon genug andere Probleme.
Amanda schloss die Finger um den Griff ihrer eigenen Waffe. Er ragte aus ihrem Hosenbund, die schwarze Klinge lag warm an ihrer Hüfte. Während sie ging, strichen ihre Finger über den glatten Stein. Es würde schon klappen. Es musste klappen.
Ein lauter Knall zerriss die Stille. Amanda zuckte zusammen. Eine Explosion! Schreie drangen zu ihnen herüber, kamen von irgendwo vor ihnen, hinter der nächsten Ecke. Was war dort los? Amanda wechselte einen beunruhigten Blick mit Jul. Der Engel hob ratlos die Schultern, eilte dann vor, um in die nächste Straße zu spähen. Amanda folgte ihm dichtauf.
Mehrere Polizeiautos parkten ein Stück die Straße hinunter. Dahinter Reihen über Reihen blau gekleidete Gestalten. Sie kehrten ihr den Rücken zu, trugen Helme und Plastikschilde. Und ihnen gegenüber … Im ersten Moment sah Amanda vor allem Rauch und rennende Gestalten. Normale Menschen in normaler Kleidung. Einige hielten noch Schilder in der Hand, wie bei einer Demonstration. Einer blieb stehen, warf etwas. Mehrere Polizisten sprangen zur Seite oder duckten sich hinter ihre Schilde. Eine weitere Explosion erschütterte die Häuser ringsum.
Sofort rückten die Polizisten vor, knüppelten einen Fliehenden erbarmungslos nieder. Aber eine Gruppe Demonstranten stürmte von der Seite heran. Sie schwangen Baseballschläger und Schaufeln. Gegenstände des täglichen Gebrauchs, umfunktioniert zu Waffen. Einer hatte sogar etwas dabei, das aussah wie ein Schwert.
Mit angehaltenem Atem beobachtete Amanda das Geschehen. So sah also eine echte Straßenschlacht aus, wenn man sie nicht bloß im Fernsehen beobachtete.
»Die Religiösen«, flüsterte Jul. »Sie versuchen, die Polizei daran zu hindern, sich dem Alexanderplatz zu nähern.«
Amanda nickte. »Denkst du, sie haben den ganzen Platz umstellt?« Welche Ironie, wenn es nun einfache Demonstranten sein sollten, die sie vom Erreichen ihres Ziels abhielten. Sie hatte es mit Dämonen und Engeln aufgenommen, aber wie sollte sie an diesem Mob vorbeikommen?
»Vielleicht. Falls die Engel es ihnen aufgetragen haben. Dann bilden sie die erste Verteidigungslinie. Das Kanonenfutter.« Bitterkeit schwang in Juls Stimme mit.
Dunst wehte die Straße herab in ihre Richtung.
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