Aeternum
hinten losging.
*
Ein schrilles Klingeln zerriss die Stille. Sie hatten seit einer Weile kein Wort mehr gesprochen, jeder in seine eigenen düsteren Gedanken versunken. Nun tastete Jul nach dem Handy, das Amanda ihm zurückgegeben hatte. Sein Herz schlug schneller. Es konnte nur Karin sein.
Das Gehäuse des kleinen Geräts war angesengt und verkratzt. Auf dem Bildschirm prangte, geteilt durch einen haarfeinen Riss, eine unbekannte Nummer. Nicht Karins Name. Jul zögerte, dann hob er ab.
»Iacoajul?« Die Stimme drang verzerrt aus dem Apparat. Dennoch erkannte er sie. Ein seltsames Gefühl, sie durch ein so modernes Gerät zu hören.
»Muriel!«
»Ich kann … durch … Teufelsding kaum verstehen. Hörst du mich?«
Jul erhob sich, trat zu der Tür des kleinen Raums und öffnete sie einen Spalt weit, in der Hoffnung, so besseren Empfang zu bekommen. »Was gibt es, Muriel?«
»Sie sagen, dass du auf der Seite der Dämonen kämpfst.«
Jul seufzte. Schwarz und Weiß. Michael und die anderen kannten kein Grau, er konnte ihnen das nicht zum Vorwurf machen. »Wer sagt das?«, fragte er, obwohl er es zu wissen glaubte. »Berichte mir genau, was geschehen ist.«
»Die Seraphim haben in einem Kampf bei einem hohen, modernen Gebäude ein paar Dämonen gefangen genommen und Michael aufgetragen, sie zu befragen. Ich hatte die Ehre, dabei Wache zu stehen. Sie waren nicht so standhaft wie Baal. Sie sagten, du seist dort gewesen, im Gefolge eines Dämons. In diesem Moment ist ein Spähtrupp auf dem Weg zu dem Gebäude, um noch einmal das Gelände nach dir abzusuchen. Es wurde beschlossen, dass du sterben musst.«
Jul verbiss sich einen Fluch. Es würde Muriels Loyalität nicht unbedingt stärken, wenn er hörte, wie er den Namen des Herrn missbrauchte. »Dann haben wir nicht viel Zeit. Aber hör mir zu, ich kämpfe nicht an der Seite der Dämonen, und schon gar nicht diene ich einem von ihnen. Ich war dort, und ich habe mit ihnen verhandelt, weil ich Informationen brauchte. Nur zu gern würde ich stattdessen einen Erzengel oder Seraph bitten, sein Wissen mit mir zu teilen, aber diese Möglichkeit steht mir nicht offen. Bitte schenk mir noch eine Weile dein Vertrauen. Ich werde dir alles erklären, sobald ich Michaels falschem Jüngsten Gericht ein Ende gesetzt habe.«
»Das hast du also vor.« Staunen schwang in Muriels elektronisch verzerrter Stimme mit. Guter, treuer Muriel. »Ich vertraue dir, Iacoajul. Solange der Herr uns fernbleibt, wüsste ich nicht, wessen Wort mehr zählen sollte als deines. Du besitzt zwar nicht sein Wissen und auch nicht das Wissen eines Erzengels oder Seraphs, aber du kannst zwischen Gut und Böse unterscheiden. Darauf vertraue ich. Du bist mir keine Erklärung schuldig.«
»Doch, das bin ich.« Irgendwann musste Muriel die Wahrheit erfahren, so schmerzhaft sie auch sein mochte. Alle Engel durften nicht länger unwissend bleiben. Aber zuerst gab es Dringenderes zu erledigen. »Zuvor muss ich dich allerdings um etwas bitten. Wir müssen unter den Alexanderplatz. Gibt es einen Weg, wie wir unbemerkt dort hinunterkommen? Ich nehme an, Michael lässt die gesamte Gegend bewachen.«
Für eine Weile herrschte Schweigen auf der anderen Seite der Leitung. So lange, dass Jul schon fürchtete, die Verbindung wäre zusammengebrochen. Dann endlich erklang erneut Muriels Stimme. »Vielleicht, wenn ihr bei Nacht kommt. Ich will sehen, dass ich heute Abend für eine Wache eingeteilt werde. Wenn, dann findest du mich am Krater in der Nähe der Stelle, an der sich früher der hohe Turm mit der silbernen Kugel an der Spitze erhoben hat.«
»Der Fernsehturm?«
»Ich denke schon. Iacoajul?«
»Ja?«
»Ich bleibe dabei, dass du mir keine Erklärung schuldig bist, was dein Handeln betrifft. Aber um eines bitte ich dich. Wenn du von dort unten zurückkehrst, erzähle mir, was du gesehen hast. Ich will die Wahrheit wissen, auch wenn ich sehe, wie sie Michaels Schultern beugt.«
Jul lächelte, doch gleichzeitig fühlte sich seine Kehle wie zugeschnürt an. »Du wirst die Wahrheit erfahren, das verspreche ich.«
36
D ie Hitze des Tages hing zwischen den Häusern wie eine dicke Decke. Sie machte Amanda das Atmen schwer, obwohl die Sonne bereits dabei war, hinter den Häusern zu versinken. Beinahe freute sie sich darauf, wieder unter die Erde zu kommen. Dort war es zumindest kühl.
Es war zum Glück kein langer Fußmarsch vom Internationalen Handelszentrum zum Alexanderplatz. Allerdings wurde er etwas länger,
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