Aetherhertz
ja auch.“
“ Ich habe mal einen gesehen, so einen Berichtiger – die sind echt unheimlich mit ihren schwarzen Kapuzen. Meine Eltern meinen, unser Nachbar wäre Berichtiger, aber niemand weiß das genau. Die können einen ja so verändern, das man ganz anders ist als vorher.“
“ Aber das können sie doch nur, wenn man vorher von dem Blitz getroffen wurde. Ich habe gehört, der Blitz macht einen willenlos – wie Alkohol, nur länger. Und dann glaubt man alles, was die sagen, und wird ein besserer Mensch.“
Annabelle grauste es vor so viel Halbwissen und Vorurteilen. Sie wusste es aber auch nicht besser.
“ Ich habe aber auch gehört, dass es welche gibt, die nicht besser wurden. Manche haben gar keinen Willen mehr, sie essen nicht mehr, sie laufen nicht mehr, und irgendwann sterben sie einfach“, warf sie ein.
Das war jetzt zu unheimlich für die Damengesellschaft; alle schwiegen einen Moment und sahen sie an.
“ Also ich könnte nicht schlafen, wenn ich Angst haben müsste, dass so ein Verdorbener um unser Haus schleicht“, entgegnete eine Brünette schnippisch.
“ Das ist doch etwas ganz anderes. Die Verdorbenen haben es verdient, geblitzt zu werden. Die sind gefährlich. Aber hier in Baden-Baden ist es ja nicht wie in Iffezheim oder noch schlimmer in Karlsruhe oder so, wo der Rhein so nahe ist. Wir haben es hier wirklich gut”, sagte Johanna.
“ Also die Blitzmänner sind in meinen Augen echte Helden.“
“ Ja, sie sind auch so fesch in ihrer Uniform, und nur die Besten und Stärksten werden ausgesucht.“
“ Du bist wirklich zu beneiden, Annabelle.“ Die Aufmerksamkeit wendete sich wieder ihr zu.
Annabelle brauchte nichts dazu zu sagen, nur ab und zu zu nicken. Dass sie unglücklich aussah, überraschte niemanden, die Damen nahmen eben an, sie wäre besorgt um ihren Schwarm und bedauerten sie.
„ Ich bin neulich einmal Fahrrad gefahren“, wechselte eine offensichtlich von dem Thema Blitzmann Gelangweilte irgendwann glücklicherweise das Thema.
Mit Eifer stürzten sich die Damen in dieses neue Feld der Erfahrungen. Viele wollten auch schon einmal ein Fahrrad ausprobiert haben – seit die Räder nicht mehr so hoch waren und eine Variante speziell für Damen erfunden worden war, gab es „Vereine für das gesunde Freizeitvergnügen mit dem Fahrrad“. Es gab sogar spezielle Fahrradfahrkleidung, die es den Damen erlaubte, die so genannten „Unaussprechlichen“, die Unterwäsche, unter dem Rock hervorblitzen zu lassen. Viele fanden das unschicklich und skandalös, was den Reiz deutlich erhöhte.
Annabelle zog das Reiten vor, und in Amerika hatte sie auch schon mit einem speziellen Hosenrock wie ein Mann auf dem Pferd gesessen und es sehr genossen. Sie wünschte sich, jetzt bei ihrem Pferd Oberon sein zu können. Alles besser als hier. Sie verstand immer noch nicht, was das Besondere heute war. Die Frau von Strebnitz saß an ihrem Tisch und hatte nur am Anfang ein paar Worte zu allen Anwesenden gesprochen. Seither gab es Kaffee und Kuchen und Langeweile – und in Annabelles Fall auch Peinlichkeiten.
Irgendwann wurde der Kuchen abgeräumt und die Damen konnten sich an einem Likörwagen gütlich tun. Annabelle trank selten Alkohol. Ihre Hand kribbelte dabei immer unangenehm. Sie hatte Angst, dass sie dann einmal so enthemmt wäre, dass sie den Handschuh abnahm und sich kratzte. Als alle Damen sich bedient hatten, klatschte die Gastgeberin in die Hände. Das Geplapper wurde zu einem Gewisper, dann hörte man nur noch das Rascheln der Röcke.
„ Meine lieben anwesenden Damen“, begann Frau von Strebnitz, „ich freue mich, dass Sie alle nun hier sind, und mit mir zusammen ein bisschen Kultur genießen. Während wir nun eine Arie aus der Oper „Madame Butterfly“ hören, wollen wir uns die exquisite Spezialität aus der Konditorei Hartmann schmecken lassen: Die Praline »Herzblut«!“
Ein paar Serviermädchen rollten kleine Wagen herein, auf denen in silbernen Etageren die Süßigkeit lag. Jede Anwesende bekam einen winzigen Teller und genau eine Praline, dazu ein silbernes Gäbelchen.
Die berühmte Praline war wie ein Tropfen geformt. Der Schokoladenüberzug war mit rotem Zucker bestreut, der im Licht der inzwischen angezündeten Gaslaternen und des Kronleuchters tatsächlich rot wie Blut glitzerte.
Die Sängerin und ein kleines Streichquartett taten ihr Bestes, um das Leid der betrogenen Kurtisane und die Tragik des verschwendeten Lebens unter diesen Umständen für die
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