Aetherhertz
Anwesenden fühlbar zu machen. Annabelle kannte die Oper, sie liebte die Geschichte, aber sie kam nicht gegen das Ereignis der Praline an.
Annabelle konnte es kaum ertragen, die Praline nicht mit der Hand berühren zu können. Sie hätte gerne mehr über die Süßigkeit erfahren, bevor diese ihre Lippen berührte. Aber es war undenkbar, den Handschuh hier auszuziehen, also nahm sie die Gabel und enthüllte das blutrote Innenleben des Tropfens. Es schien eine Art Creme zu sein, die nun langsam dunkelrot und zähflüssig aus der Hülle floss.
Als sie den ersten Bissen in den Mund nahm, war es wie ein Schock. Die Sopranistin war gerade auf dem Höhepunkt der ersten Arie, dem Teil, als die Kurtisane sich noch ausmalt, wie sie vor allen Zweiflern triumphiert und ihren Geliebten zurückerobern wird. Die Musik ging Annabelle plötzlich durch Mark und Bein. Sie erschauerte und Tränen stiegen in ihr auf. Ein Schluchzen saß hinten in ihrer Kehle, sie hielt es aber zurück, zu entsetzt über die Tragik und die Emotionen, die sie empfand.
Sie erlebte die Enttäuschung der Kurtisane, den Schock über den Verrat ihres Geliebten, das Opfer, das sie erbringt, in dem sie ihm ihr gemeinsames Kind überlässt. Wie sie Abschied nimmt und sich selbst entleibt. Wie ihr ehemaliger Geliebter noch einmal nach ihr sucht, und sie sterbend findet, ihren Namen ruft, immer wieder, aber sie ist schon tot. Es war, als würde Annabelle selbst vergehen, sie spürte den Schmerz in ihren Eingeweiden, die endlose Verzweiflung, die Schande der Lügen, die das Leben der Kurtisane nicht mehr lebenswert machten. Annabelle glaubte fast, ohnmächtig zu werden.
Als die Musik verklang, atmete sie aus und fühlte eine tiefe Traurigkeit. Obwohl der Augenblick nur wenige Minuten gedauert hatte, und die Streicher leise weiterspielten, hatte sie eine unfassbar gewaltige Erfahrung gemacht. Sie legte die Gabel auf den Teller, auf dem nur noch ein roter Fleck und ein paar Zuckerkrümel von der Praline kündeten, und sah sich um.
Sie sah mehrere tränenverschleierte Augen, die Damen schnieften, einige schluchzten ungehemmt. Die Sopranistin verbeugte sich verwirrt. Von der Tür her kam kräftiger Applaus.
Annabelle sah sich um. In dem Durchgang zu Kaffee standen sechs junge Soldaten in einer schwarzen Uniform mit gelben Streifen. Sie erschrak. Jeder kannte diese Tracht: Es war die Ausgehuniform der Blitzmänner. Die Männer waren allesamt groß, muskulös, gut aussehend, und das wussten sie auch. Sie grinsten amüsiert in den Raum, der angefüllt war mit emotional aufgelösten und weinenden jungen Damen. Einige nahmen sich ihr grünes Halstuch ab und reichten es den verheultesten Frauen.
Annabelle tupfte sich mit ihrem eigenen Taschentuch die Augen und überlegte fieberhaft, wo sie sich schnell verstecken könnte. Die Streicher spielten nun ein fröhliches Lied und langsam konnten einige der Damen wieder sprechen. Die Sopranistin verabschiedete sich immer noch etwas verwirrt von Frau von Strebnitz.
Wenn ich mich doch auch verdrücken könnte, dachte Annabelle, aber es war schon zu spät.
„ Annabelle“, zischte Johanna. „Da sind Blitzmänner! Ist dein Friedrich dabei?“
Woher sollte Annabelle das wissen? Sie studierte die Männer, um eine Verwandtschaft mit Paul festzustellen, aber keiner von denen sah ihm ähnlich. Sie wirkten frisch, kraftvoll und lebendig – ganz anders als der stille und zurückhaltende junge Mann bei ihr Zuhause. Verflixt! Nun kam auch noch einer auf sie zu!
„ Was für ein wundervolles Schmuckstück Sie da haben, werte Dame!“, sagte er mit einer leichten Verbeugung.
Annabelle nickte nur. Johanna platzte fast neben ihr. Annabelle stieß ihr den Ellenbogen ins Korsett.
„ Gestatten, Falkenberg, Friedrich Falkenberg ist mein Name.“ Der Mann war blond und aus seinen blauen Augen blitzte sichtbar der Schalk. Annabelle runzelte verwirrt die Stirn. Der lächelte sie an, als würden sie sich seit Jahren kennen?
„ Aber das weiß Sie doch!“, drängelte Johanna sich dazwischen. „Sie brauchen nicht Versteck zu spielen, wir wissen alles!“
Nun war der junge Mann überrascht: „Soso“, er sah Annabelle an und zwinkerte kurz. „Alles? Wirklich?“
Annabelle starrte ihn immer noch sprachlos an, dann fasste sie sich und nickte kurz.
„ Na, dann bin ich aber erleichtert. Sie haben doch sicher auch nichts dagegen, wenn ich Ihre Freundin kurz entführe?“ Der Blitzmann lächelte Johanna entwaffnend an.
„ Ach, im Gegenteil!
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