AFFÄREN, DIE DIE WELT BEWEGTEN
kleiner als ein DIN-A5-Blatt heute) mit Goldschnitt.
Warum ein scheues junges Mädchen aus dem innerstädtischen Bezirk Neubau am frühen Morgen im Schlosspark Schönbrunn – zwar in Begleitung ihres Dienstmädchens Lini – lustwandelt, bleibt erklärungsbedürftig. Es sei denn, man würde der frühreifen Dame unterstellen, bewusst die Nähe zu attraktiven Erzherzögen oder anderen Schlossbewohnern zu suchen. Denn um kurz nach fünf Uhr früh in Schönbrunn sein zu können, muss die junge Frau zu nachtschlafender Zeit ihre Wohnung in Wien-Neubau verlassen und gut eine Stunde zu Fuß nach Schönbrunn gehen.
Anna Nowak ließ sich auch in den kommenden Tagen nicht von ihren Morgenspaziergängen abhalten, und so kam es, wie es kommen musste. Sechs Wochen später trifft Anna im Park den Herrn in Generalsuniform wieder. Kaiser Franz Joseph eröffnet das Gespräch: „Sie gehen aber fleißig spazieren!“ Die Halbwaise, die von ihrer Mutter schon mit vierzehneinhalb Jahren zwecks finanzieller Absicherung mit dem Seidenfabrikanten Heuduck verheiratet worden war, findet den 30 Jahre älteren Herrn charmant und nicht unattraktiv. Im Park, am frühen Morgen, zu jener Zeit, wird nicht lange getändelt. Die nächste Tagebuchnotiz findet sich bereits am Tag darauf. „‚Schönes Mädchen, Frau oder Kind, was Sie sind‘, sagt der Kaiser, ‚geben Sie mir einen Kuss.‘ Ich wagte ihn nicht anzublicken, die Bäume tanzten vor meinen Augen. Er wiederholte die Bitte immer dringender, beugte sich herab, hob meinen Kopf empor, und ich habe ihn wahrhaftig geküsst. Ich fühle es noch, denn der Bart war vom Regen nass. Er reichte mir zum Abschied die Hand u. ging.“
Ein Kuss vom Kaiser bringt das Gefühlsleben der Anna Heuduck gehörig durcheinander: „Zuhause keine Ruh, fort denk ich an diese Begegnung, Tag und Nacht steht das Bild des Kaisers mit seinem Lächeln vor mir! Soll ich wieder nach Schönbrunn gehen? Hundertmal sagte ich nein! U. ebenso oft, ja! Und ich ging.“
Der Kaiser in der Blüte seiner Jahre küsst also das junge Mädchen aus dem Volk. Und sie beschließen, einander regelmäßig zu treffen. So beginnt eine merkwürdige Affäre, die fast 14 Jahre dauern sollte. Anna entspricht dem Schönheitsideal jener Tage: Ein bisschen mollig, ein rundes Gesicht, ein draller Busen – so blickt sie den Betrachter auf den überlieferten Fotos an. Sie ist ein„süßes Wiener Mädl“, das in einer kleinbürgerlichen Welt aufgewachsen ist. Sechs Geschwister und ihr Vater sterben, die Mutter führt die Korbwarenfabrikation allein weiter. Anna gilt als melancholisch, oder wie es im Wiener Dialekt heißt: „tramhappert“.
Anna ist im Frühjahr 1875 noch mit ihrem Seidenfabrikanten verheiratet, aber die von der Mutter erhoffte „gute Partie“ ist er nicht. Johann Heuduck gilt als spielsüchtiger Alkoholiker. Er kümmert sich kaum um seine Angetraute, die fast noch ein Kind ist. Am 2. April 1875 notiert sie in ihr Tagebuch: „Mein Mann ist ein großer Lump, ein Kartenspieler, der sich um sein junges Weib nicht kümmert. O was hat mich diese Heirath schon Tränen gekostet.“
Anna wird schwanger und bringt eine Tochter, Carla, zur Welt. Die Verbindung zum Kaiser bleibt aufrecht. Er besucht sie heimlich in ihrer Parterre-Wohnung und hat dabei Angst, vom heimkehrenden Ehemann entdeckt zu werden. In Briefen fordert der allerchristlichste Kaiser die verheiratete Bürgersfrau auf, ihn zu erwarten, tunlichst ohne Mieder, damit er schneller zur Sache kommen kann. Mit 17 Jahren lässt sich Anna von ihrem Ehemann scheiden.
Schon eineinhalb Jahre später lernt sie einen Beamten der k. u. k. privilegierten Südbahn-Gesellschaft kennen. Franz Nahowski gilt als Lebemann und toller Tänzer. Anna verliebt sich in den feschen Franz, kann sich zwischen Eisenbahner und Kaiser nicht entscheiden und beschließt, mit beiden Männern „gut zu sein“. Franz Nahowski bedrängt Anna, doch diese ziert sich anfänglich. Aus ihrem Tagebuch wissen wir genau, wann sie schwach wurde. „Und nun am 21. Februar kam der verhängnisvolle Tag, wo es kein Halten mehr gab, wo meine Kraft gebrochen ich gehöre ihm mit Leib und Seele.“ Anna will noch einmal heiraten, dafür bittet sie den Kaiser brieflich um Erlaubnis. Sie ist außerdem wieder schwanger. Das Kind muss einen Namen haben. Franz Joseph besucht seine Freundin, setzt sich an ihr Bett und verkündet sein Einverständnis, es sei das Beste, wenn sie heiraten würde. Im selben Jahr, in dem Franz Joseph
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