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AFFÄREN, DIE DIE WELT BEWEGTEN

AFFÄREN, DIE DIE WELT BEWEGTEN

Titel: AFFÄREN, DIE DIE WELT BEWEGTEN Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerhard Jelinek
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kann eine italienische Familie gut 200 Jahre leben. Bald wird dem Paar das konservative Venedig mit seiner morbiden Pracht zu eng. Die Familie zieht 1902 nach Mailand und wird dort von der Sozialistischen Partei mit offenen Armen empfangen. Solche Aktivisten sind willkommen. In Mailand lernt sie Anna Kuliscioff und Angelica Balabanoff, die großen Damen des italienischen Sozialismus, kennen. Sie führen ein aufregendes Leben. In ihrem Salon gehen die aufstrebenden Talente einer neuen Zeit ein und aus. Margherita schreibt Kunstkritiken, freundet sich mit Malern an. Sie schätzt und fördert eine Künstlergruppe, die sich „Futuristen“ nennt, und entwickelt sich zu einer anerkannten Kritikerin. Ihre Meinung zählt. Es ist eine außergewöhnliche Rolle, die sie als Frau im Kunstleben des frühen 20. Jahrhunderts einnimmt. Marianne Brentzel schreibt in ihrer Biografie über Margherita Sarfatti: „Sie lebten das aufregende und hoffnungsvolle Dasein junger Radikaler mit der Sicherheit, dass sie zu den Werten der alten Familie zurückkehren konnten, wann immer sie es wünschten.“ In Mailand lernt Margherita den Dichter Gabriele D’Annunzio kennen. Der Jugendfreund ihres Mannes hat sie zur Premiere seines Theaterstücks „Das Schiff“ eingeladen. Margherita sticht D’Annunzio ins Auge. Er überhäuft sie mit Rosen. Doch sie verfällt seinem Charme, nicht seinen körperlichen Reizen. Aus der ersten Begegnung entwickelt sich eine lange Freundschaft, keine kurze Affäre.
    Es ist geradezu unvermeidlich, dass in den Mailänder Salons auch der Chefredakteur des sozialistischen „Avanti!“ zu Gast ist. Ein kleiner, stämmiger Mann mit lauter Stimme, einem aufbrausenden Wesen und einer kämpferischen Attitüde. Margherita findet Benito Mussolini zumindest interessant. Der Berliner Kunsthistoriker Christian Saehrendt beschreibt die seltsame Erscheinung: „Sein Auftreten war plebejisch und linkisch, doch sein körperbetontes Auftreten sorgte in der geriatrischen Atmosphäre der Jahrhundertwende für Aufsehen. Um seine Virilität und Jugendlichkeit zu demonstrieren, trug er zu enge Anzüge, rasierte sich glatt, grimassierte und rollte mit den Augen – ein Novum in der politischen Arena.“ In dieser gesellschaftlichen Umbruchzeit werden Außenseiter nach oben gespült. Ein paar hundert Kilometer entfernt, nördlich der Alpen, hält ebenfalls ein Außenseiter, ein gescheiterter Maler, ein Gefreiter des Ersten Weltkriegs, große Reden. Teile der Münchner Gesellschaft sind fasziniert, angesehene Damen finden den geborenen Österreicher charmant. Sie finanzieren Adolf Hitlers Aufstieg, bringen ihm Manieren und gesellschaftliche Techniken bei, ohne die auch Revolutionäre langfristig keine Aussicht auf Erfolg haben. Die Anfangsjahre der Karrieren von Mussolini und Hitler zeigen ähnliche Muster.
    Uta Ruscher beschreibt in einem Radio-Feature Margherita Sarfattis Begeisterung für Mussolini. Sie sieht in dem politischen Emporkömmling den Retter der italienischen Nation. Und sie beweist gutes Gespür für Charisma und Macht. In den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg teilen sich italienische Sozialisten in verschiedene Strömungen. Und sie bekämpfen einander mindestens so heftig wie den „Klassenfeind“. Sarfatti, die „Reformsozialistin“, ist mit Überschwang für utopische Ideen empfänglich. Sie träumt von einem neuen Staat, einer „zukünftigen Stadt“. Ihre künstlerischen Protegés, die Futuristen, versuchen Dynamik, Bewegung, den Rausch der Geschwindigkeit, aber auch Kampf und Gewalt auf die zweidimensionale Leinwand zu bannen. Politik, Intellektuelle und Künstler, Schwärmer und Verrückte – alle sehnen etwas Neues herbei, ohne zu wissen, welche Katastrophe sie herbeireden, -schreiben oder -malen.
    Der wortgewaltige Volksschullehrer Mussolini wird ins Direktorium der Parteizeitung „Avanti!“ gewählt. Margherita Sarfatti glaubt, als gemäßigte Reform-Sozialistin unter dem radikalen Mussolini nicht mehr arbeiten zu können. Ehe sie gekündigt wird, will sie dem neuen Redaktionsleiter ihren Abschied anbieten. Der Chefredakteur des Parteiblatts hält sich nicht lang mit ideologischen Spitzfindigkeiten auf. Er macht unverhohlen deutlich, dass er blonde Frauen ganz besonders schätzt. Und Mussolini provoziert die großbürgerliche Sozialistin mit einem Nietzsche-Satz: „Wenn Du zum Weibe gehst, vergiss die Peitsche nicht!“ Was immer der spätere „Duce“ wirklich gesagt haben mag, Nietzsche hat er sicher

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