AFFÄREN, DIE DIE WELT BEWEGTEN
irgendwelche Studenten, sondern führende Intellektuelle ihrer Zeit: Der Literaturkritiker und Politiker Antonio Fradeletto prägte das junge Mädchen, begeisterte sie für die Kunst und hatte die Idee, in den Gardini (hinter dem ehemaligen Arsenal der Seefahrer-Republik Venedig) anderen Nationen Baugründe zur Verfügung zu stellen, damit diese für die Kunstausstellung „Biennale“ Pavillons ganz nach eigenem Geschmack errichten konnten. Dieses Erfolgsrezept trägt bis heute. Die „Biennale“ gilt als bedeutende Werkschau zeitgenössischer Kunst, und die Nationen-Pavillons werden alle ungeraden Jahre „bespielt“. Fradeletto leitete die Biennale zwei Jahrzehnte lang und diskutierte mit seiner jungen Schülerin über Schopenhauer und Nietzsche. Für ihn war die Arbeiterklasse zahlenmäßig mächtig, aber politisch unmündig. Fradeletto entwickelte die ersten Fundamente des später von Mussolini machtpolitisch durchgesetzten „Faschismus“.
Ihre sozialrevolutionären Ideen empfing sie von San Matteo, einem Florentiner Professor, den sie beim Urlaub an der Adria traf. Der deutlich Ältere verehrte die 15-Jährige, umschmeichelte sie, schrieb ihr heimlich Briefe und begeisterte sie für seine Ideen des Sozialismus, der Überwindung aller Klassenschranken. Er erzählte ihr von Karl Marx, dem Elend der Arbeitermassen und betrachtete ihre schlanken nackten Beine, wenn sie gemeinsam im heißen Sand der Adria-Strände lustwandelten. Seine leidenschaftlichen Komplimente zeigten keine Wirkung, seine politischen Gedanken hingegen überwältigten die Tochter aus feinstem Haus.
Margherita berichtet in ihren Lebenserinnerungen von einem „Erweckungserlebnis“: Sie traf ein gelähmtes Bauernmädchen, begleitet von ihrer hilflosen Mutter. Das Kind aus dem Palazzo wird mit dem Elend des Lebens konfrontiert. Sie setzt sich an den Schreibtisch und verfasst einen flammenden Appell für soziale Gerechtigkeit. Ihren ersten Artikel steckt sie in ein Kuvert und sendet ihn anonym an die sozialistische Zeitung „Avanti!“. Auch ihrem Verehrer schickt sie das Pamphlet. Der Herr Professor ist begeistert. Er schickt der jungen Dame rote Rosen. Ihr Vater hingegen hält die sozialrevolutionären Anwandlungen seiner Tochter für pubertäre Überspanntheit. Im Luxus leben und sich um das Elend der Welt sorgen: Papa Grassini ist empört, Frau Mama dagegen zeigt gewisse Sympathien für die aufmüpfige Tochter. Und die venezianische Gesellschaft hat ein neues Thema. Das junge Mädchen, das in einer sozialistischen Zeitung publiziert: Mildes Kopfschütteln und ein wenig Spott über die Bankierstochter, die im Opernhaus „La Fenice“ in einer eigenen Familienloge den Arien lauscht und in der Familien-Gondel über den Canale Grande gerudert wird. Schnell wird sie für spitze Zungen zur „roten Jungfrau“.
Ob das ihren Entschluss befeuert, rasch dem elterlichen Haus zu entfliehen? Jedenfalls lernt die 16-Jährige den doppelt so alten Juristen Cesare Sarfatti kennen. Er ist eine stattliche Erscheinung, imposanter Bart, dunkle Haare und durchaus schon wohlhabend. Und er denkt fortschrittlich, lehnt die Monarchie ab und sympathisiert mit den Sozialisten. Die beiden treffen einander heimlich. Als sie ihrem Vater erklärt, Cesare Sarfatti heiraten zu wollen, ist dieser entsetzt. Der Advokat gilt als leichtlebiger Schürzenjäger, seine politischen Ideen werden als krause zurückgewiesen und im Vergleich mit den Geschäften der Grassinis sind die Sarfattis arme Schlucker. Zwei Jahre müssen sich die beiden Liebenden heimlich treffen. Nach Erreichen ihrer Volljährigkeit kann der Vater die Hochzeit nicht mehr verhindern. Margherita: „Mit dreizehn verliebte ich mich in die Malerei, mit fünfzehn in die Idee des Sozialismus, mit sechzehn in einen Mann. Mit achtzehn heiratete ich zu gleicher Zeit die Literatur, die Künste, diese Idee und diesen Mann.“ Herr Sarfatti und Fräulein Margherita werden im Palazzo Bembo zivilrechtlich getraut. Die Hochzeitsreise führt das Paar in die Schweizer Berge und nach Paris. Den Eiffelturm, das Symbol der Moderne, besteigt die junge Ehefrau zu Fuß, in einer Galerie im Künstlerviertel Montmartre kauft Margherita eine Lithografie eines jungen Künstlers: Toulouse-Lautrec.
Zurück in Venedig drängt sie ihren Ehemann Cesare, für ein neues, „glorreiches“ Italien zu kämpfen. Sie kann es sich frei von materiellen Sorgen leisten. Ihr Vater hat seiner Tochter 200.000 Lire Mitgift gegeben. Mit dieser Summe
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