Afghanistan, Srebrenica & zurück (German Edition)
sich diese Gedanken durch den Kopf gehen ließ, legte sie sich bäuchlings aufs Bett und beobachtete das Rieseln der astralfarbenen Körnchen in der kleinen Sanduhr ihres Geliebten. Die obere Kugel lief leer, in der unteren lag still die kleine, glänzend bläuliche Düne. Obgleich die wirkliche Zeit in der grenzenlosen Weite der Kugel des Kosmos ihren Lauf fortführt, überlegte sie. Spielerisch drehte sie sich auf den Rücken, ließ den Kopf über die Bettkante baumeln. Und was sie dann sah, kam ihr sehr sonderbar vor: Der Sand begann aufzusteigen. Langsam, aber stetig rieselte er aus der unteren Kugel in die obere, als würde die Zeit zurücklaufen. Die Sandkörner schienen schneller zu rinnen, schneller und immer schneller...
16 Djmal, der Hotelpage
Ein rollendes, sich näherndes Geräusch war zu hören. Anica schreckte auf. Das leichte Poltern kam vom Flur her von einem Frühstückswagen. Das Dienstpersonal hatte mit der Arbeit begonnen. Größer konnte der Kontrast zwischen Hotelzimmer und Front nicht ausfallen, dachte sie, stellte die Sanduhr mit zwei halb gefüllten Kugeln auf den Nachttisch und öffnete nach einer ereignislosen Weile die Tür. Unmittelbar vor ihr stand der Hotelpage. Dreist sah Djmal ihr in die Augen.
„Von Unerzogenheit zeugt es“, sagte Anica, „wenn ein Mensch an der Tür horcht.“
„Schwer ist es für einen stillen Mann“, erwiderte Djmal mit einem leicht unverschämten, aber nicht unsympathischen Grinsen, „ein geschwätziges Weib zu ertragen.“
„Du kennst also die Heilige Schrift, Djmal“, sagte sie, hob eine Augenbraue hoch. „Na, dann komm erst mal rein.“
„Mir ist das heilige Buch bekannt“, sagte Djmal und zog die Tür hinter sich zu, „und auch Isa Syrah, von dem diese Verse stammen. Aber ich glaube nicht mehr daran.“
„Zasto ne? Warum nicht?“
„Es passt nicht mehr in die heutige Zeit. Das heilige Buch verbietet Abbildungen des Menschen, so wie Sie das machen. Sie schaffen wohl Bilder, jedoch keine Seelen dazu. Nach dem Buch müssten Sie dann im Jenseits zu all den Bildern mühselig die Seelen erschaffen. Würden Sie das etwa glauben?“
Anica wusste, dass der Islam die regionalen Naturreligionen abgelöst hatte; Mohammed hatte als Erstes die Vielzahl der Götzenbilder zerstören lassen und Abbilder von Lebewesen verboten. Die Journalistin schüttelte den Kopf und zückte den Camcorder. „Wo hast du das gelernt?“ erkundigte sie sich. „In der Schule?“
„Komme ich ins Fernsehen?“ fragte Djmal aufgeregt zurück, und als die Reporterin hinter der Kamera nickte und unvermerkt das Mikrophon zuschaltete, begann der Junge zu erzählen: „Meine Mutter lehrte mich, als ich klein war: `Wenn du das heilige Buch mit schmutzigen Händen anfasst, wirst du ein Medjed, ein Bär werden´. Ich konnte nächtelang nicht schlafen, grübelte darüber nach, wie es sein würde, ein Medjed zu sein, wie es sich wohl lebe unter dieser Pelzhaut, und dass es vielleicht schön wäre, soviel Kraft zu besitzen. Und dann, nach zögerlichem inneren Entschluss, fasste ich das heilige Buch mit den schmutzigsten Händen an. Meine Enttäuschung war groß, als nichts geschah. Ich wurde kein Bär. Doch böse wurde der kleine Djmal.“ Er hielt inne, fragte: „Komme ich auch wirklich ins Fernsehen?“ Und als die Reporterin heftig nickte, fuhr er fort: „Und böse ließ der kleine Djmal seine bauschige Hose herunter und setzte sich mit dem Hinterteil auf die heiligen in Gold und Schwarz verschlungenen Buchstaben. Mit ernstem und erhabenem Gefühl saß ich da und wartete auf die unvermeidliche Reaktion, auf die Herausforderung Allahs. Und da wiederum nichts geschah, brach ich in jener Stunde mit Allah und seinem Kreis.“
„Und woran glaubst du nun?“
„Dass ich so bald wie möglich mithelfe, Bosnien von den Besatzern zu befreien.“
„Geh du erst mal wieder brav in die Schule.“ Sie musterte ihn von oben bis unten, sein hageres Gesicht mit den spitzbübischen Augen, die schmalen Schultern, den zartgliedrigen Körperbau.
„Ich weiß genug, um mitkämpfen zu können“, betonte der Junge mit fester Stimme. „Ich habe mich freiwillig gemeldet; ich muss MP-Schütze werden. Sobald ich vierzehn bin...“
„Und was sagen deine Eltern dazu?“
„Die sind lange tot. Eine Bombe...“
„Das tut mir leid. Hast du denn gar keine Angst, dass dir auch etwas zustoßen könnte?“
„Und wenn schon! Vielleicht sehe ich ja dann meine Mutter wieder...“ Draußen auf dem
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