Afghanistan, Srebrenica & zurück (German Edition)
Bundestagsbeschluss vom 30. Juni grünes Licht zum Angriff gab, war von der Opposition nichts mehr zu hören. Am 30. August begannen NATO-Kampfflugzeuge - unter Beteiligung von Tornados der Bundesluftwaffe - 14-tägige Angriffe auf serbische Stellungen in Bosnien. Dies - und nicht der Angriff auf Jugoslawien 1999 - war der erste Kriegseinsatz des westlichen Bündnisses und der Bundeswehr. Aber kaum jemand hat es gemerkt, denn die Öffentlichkeit war durch die Zustimmung von SPD und Grünen eingelullt. Den Angriffen, bei denen auch Munition aus abgereichertem Uran eingesetzt wurde, fielen mehrere hundert Menschen zum Opfer.
Das Einknicken der parlamentarischen Kriegsgegner zwischen dem 30. Juni und dem 30. August 1995 wurde durch ein einziges Ereignis ausgelöst: die Eroberung der ostbosnischen UN-Schutzzone Srebrenica durch die Serben am 11. Juli. „Seit Srebrenica habe ich meine Position verändert“, sagte Fischer im Rückblick. Auf dem grünen Parteitag im Dezember 1995 erhielten Anträge, die sich in unterschiedlicher Radikalität für deutschen Interventionismus gegen die „marodierende Soldateska“ (Ludger Volmer) der Serben aussprachen, erstmals mehr Stimmen als die der Interventionsgegner und Pazifisten.
Spurensuche
In den Tagen nach dem 11. Juli 1995 habe sich „Europas schlimmstes Kriegsverbrechen seit dem Zweiten Weltkrieg“ ereignet, resümierte der Spiegel . Die bosnischen Serben hätten 7.000 Muslime ermordet - so die bis heute in westlichen Medien gängige Zahl.
7.000 Ermordete? Das Internationale Rote Kreuzes (IKRK) hat bis zum Sommer 2001 insgesamt 7.475 aus Srebrenica Verschwundene registriert. Wie viele davon tot sind, ist nicht geklärt. Auch zu den wichtigsten westlichen Untersuchungsberichten wurden in dieser Hinsicht keine weiteren Nachforschungen vorgenommen. Das trifft sowohl auf die 1.200 Seiten starke Studie einer Kommission des französischen Parlaments (vorgelegt im November 2001) als auch auf den 3.500 Seiten starken Report des niederländischen Armeeinstituts NIOD (vorgelegt im April 2002) zu. Zum niederländischen Report stellt das Wochenmagazin Elsevier kritisch fest: „Die Schuld der bosnischen Serben wird nicht geringer, wenn keine siebentausend, sondern zwei- oder dreitausend Muslime abgeschlachtet wurden. Aber eine genauest mögliche Feststellung der Anzahl der Todesopfer ist von Bedeutung, wenn es um die Wahrheitsfindung geht. Und genau hier wird die Untersuchung ... den Anforderungen nicht gerecht.“
Die Zahl „zwei- bis dreitausend“ kann als wahrscheinlich gelten, da sie von den Ergebnissen der Leichensuche gestützt wird. Das UN-Tribunal in Den Haag, das die entsprechenden Grabungsarbeiten in und um Srebrenica koordiniert, gab im August 2001 die Gesamtzahl der gefundenen Leichen mit „mindestens 2.028“ an. Diese seien aus 21 Massengräbern geborgen worden, 18 weitere seien noch nicht untersucht.
Strittig ist, wie viele dieser Toten von den Serben exekutiert wurden. Die Richter in Den Haag stellten dazu im Verfahren gegen den bosnisch-serbischen Armeegeneral Radislav Krstic fest: „Der Gerichtshof kann die Möglichkeit nicht ausschließen, dass ein Prozentsatz der in den Gräbern gefundenen Leichen Männer sein könnten, die im Kampf getötet wurden.“ Der Haager Chefermittler Jean-René Ruez geht davon aus, dass alle 2.628 Toten der 28. moslemischen Division bei den Gefechten zwischen Srebrenica und Tuzla „im Kampf umgekommen“ sind (s. Interview in: Julija Bogoeva/Caroline Fetscher, Srebrenica - Ein Prozess ).
Selbst wenn man von der 7.000 „Abgeschlachteten“ die Verschwundenen, die noch am Leben sind, und die Opfer militärischer Auseinandersetzungen abzieht, bleibt Srebrenica ein schreckliches Massaker an Wehrlosen. Schätzungsweise 1.500 Muslime dürften außerhalb jeder Kampfhandlungen erschossen worden sein. Deren Ermordung war ein Kriegsverbrechen, für das die serbischen Täter zur Verantwortung gezogen werden müssen. So gerechtfertigt das weltweite Entsetzen über die Gräuel war, so propagandistisch war aber auch der Versuch der NATO, sie als singulär darzustellen.
Zum Vergleich: Wenige Wochen nach Srebrenica - und noch vor dem NATO-Eingreifen in Bosnien - eroberte die kroatische Armee die serbische Krajina. 200.000 Menschen wurden vertrieben - mehr als je zuvor in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Belgrader Menschenrechtsorganisation Veritas hat ermittelt, dass im Zuge der Offensive etwa 2.000 Zivilisten verschwanden oder
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