Afrika im Doppelpack: Vater und Sohn mit dem Rucksack durch Schwarzafrika
Inwieweit sich das menschliche Leid, zumeist jeweils von Angehörigen der anderen Bevölkerungsgruppe verursacht, aus den Köpfen treiben lässt, wird die Zukunft zeigen.
Und in dieser Zukunft standen Michael und ich einem Haufen blutdurchtränkter Kleidung gegenüber, der ein bestialischer Geruch entströmte, als hätten die Massaker vorgestern stattgefunden und nicht vor 17 Jahren. Wir waren in der Kirche von Nyamata. Eine von mehreren über das ganze Land verteilten Gedenkstätten des Genozids. Hierhin hatten sich Tausende von Männern, Frauen und Kindern geflüchtet. Noch nie waren damals die Kirchen angegriffen worden. Sie hatten als der letzte Zufluchtsort gegolten. Wer sie erreicht hatte, war dem Tod von der Schippe gesprungen. Dieses Mal hatte es nicht so sein sollen. Die Mordbrenner hatten mit allem, was sie hatten, in das Gotteshaus geschossen, bevor sie mit ihren Macheten erbarmungslos ganze Arbeit geleistet hatten. Nur wenigen war die Flucht gelungen. Am Ende hatten mehr als 5000 in ihrem Blut gelegen.
Michael ging wie die wenigen Besucher schweigend durch die Kirchenbänke. Ich beobachtete ihn, wie er vor den sauber aufgereihten Totenschädeln stehen blieb und auf die tiefen Kerben der Machetenhiebe starrte. Mich überkamen langsam Zweifel, ob ich ihm nicht zu viel zumutete. Sicher, es war nicht das erste Mal, dass er an Orten früherer Grausamkeiten seine Lektionen fürs Leben lernte. Wir waren zusammen in den Folterkellern und auf den Killing Fields der Roten Khmer in Kambodscha gewesen und waren Seite an Seite durch die Konzentrationslager Dachau und Flossenbürg gegangen.
Bücherwissen war das eine. Die Realität das andere. Das eine ging nicht ohne das andere. Schon klar, gerade ein Kind brauchte eine schrittweise und überaus gefühlvolle Heranführung an die Thematik. Keine Vorbereitung von heute auf morgen, sondern von langer Hand geplant. Trotzdem blieb Bestialisches bestialisch, ließ sich ein Grauen nicht vermeiden. Es gab keine kindgerechten Schrecken, nicht ein bisschen Massaker. Aber die Augen zu verschließen, kam nicht infrage. Weder in der Heimat vor den Auswirkungen des Holocaust der Nazis noch vor den Schrecken der Regime der Vergangenheit in den jeweiligen Reiseländern – Erfahrungen zur Mahnung. Als Abschreckung für zukünftige Generationen.
Auch mir stellten sich die Nackenhaare auf, als wir von einer Überlebenden durch die Gedenkstätte geführt wurden und die Gräuel aus deren Mund wieder zum Leben erwachten. Es gab hier eine Stelle in der Ecke eines Gebäudes, vor der ganz besonders viele Blumen abgelegt worden waren. Eine dunkle Ecke im wahrsten Sinne des Wortes. Dunkel von dem vor 17 Jahren geronnenen Blut. Dem Blut der Säuglinge, die hier mit den Köpfen gegen die Wand gedroschen worden waren. Schlimm. Schlimm genug? Eigentlich war es noch viel schlimmer. Denn es gab überall im Land, in jeder Stadt, in jedem Dorf, ja, wahrscheinlich in jeder Straße diese Ecken, in denen der Hass unvorstellbare Exzesse der Gewalt gebar. In denen Mädchen zu Tode vergewaltigt und kleine Jungen, bis das Leben aus ihnen wich, gefoltert wurden. In denen bis heute Menschen ihren Alltag in Gegenwart der Täterfamilien verbrachten und die Tatorte von Mord und Totschlag auf dem täglichen Weg zur Arbeit lagen. Wir verließen Nyamata Arm in Arm und ohne einen Mucks.
Von jetzt an ging es nur noch bergauf. Von Kigali bis zu den Hängen der Virunga-Vulkane, auf denen unsere Gorillas lebten, mehr als 1000 Höhenmeter. Bis es aber soweit war und wir auf die Pirsch gingen, wollten wir noch für ein paar Tage an den Ufern des Kivu-Sees mit Blick auf die majestätisch emporragenden Vulkankegel unsere Kräfte sammeln. Standesgemäß reisten wir mit dem Virunga-Express an. Die kleine, private Buslinie beförderte ihre Passagiere so, wie Nostalgiker sich eine Fahrt durch das Innere des Schwarzen Kontinents gemeinhin vorstellten: Eingepfercht zwischen mehr als zweimal so viel wie den erlaubten 28 Passagieren ging es im Schritttempo vorwärts. Über eine Schotterpiste mit Löchern, bis zum Rand voll Wasser und groß genug für eine Herde Elefanten. Vorbei an Dörfern am Rand der Landkarte. Mit Kindern, die meistens winkten und einmal Steine schmissen. Über schwankende Brücken und entlang gähnender Abgründe – aber immer begleitet von afrikanischen Gospelliedern. Entweder aus den Lautsprechern des Busses oder – so laut es nur ging – aus einem der Handys unserer tiefgläubigen Mitreisenden.
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