After Moonrise (German Edition)
konnte sie nicht mehr aufspüren.
Dann erinnerte er sich – im Buch hatte gestanden, dass seine Gabe nicht mehr funktionieren würde, sobald er das Land der Toten erreicht hatte. Dass er sich auf seinen Verstand und seinen Einfallsreichtum verlassen musste. Also denk nach!, befahl er sich selbst. Er hatte Aubrey schließlich bis hierher folgen können – erst als er angekommen war, hatte ihn seine Gabe verlassen. Während Raef versuchte, Ordnung in seine Gedanken zu bringen, sah er sich um. Vielleicht sollte er einfach von Körper zu Körper gehen und ihren Namen rufen.
Nein. Das fühlte sich falsch an, und er hatte keine Zeit, ziellos herumzusuchen. Denk nach! Benutz etwas von dieser verdammten Weisheit, die beide Mädchen bei dir vermuten! Er sah sich in alle Richtungen um. Was für ein trüber, hoffnungsloser Ort. Es gab nichts Grünes – kein Sonnenlicht, keinen blauen Himmel, nicht einmal das vertraute Braun eines winterkahlen Baumes.
Warte, vielleicht ist da was dran. Aubrey hat Farben! Ihr Geist hat, obwohl er hier gefangen ist und ausgesaugt wird, noch genug Farbe an sich, um eine Spur für mich zu hinterlassen .
Es brachte ihn nicht weiter, bei den armseligen farblosen Körpern zu suchen, die vollkommen aufgegeben hatten und keinerlei Licht mehr ausstrahlten. Er musste einfach nur nach Licht suchen – irgendeinem Licht.
Also löste Raef seine Aufmerksamkeit von den schrecklichen verschmolzenen Gestalten und schwebte weiter. Dabei suchte er, ließ den Blick in alle Richtungen wandern, spähte durch Nebel und Dunkelheit, bis er rechts von sich ein leises Flackern entdeckte, wie von einer Kerze in starkem Wind. Er schwebte zurück, bis er genau an die Stelle kam, wo er das Flackern von Farbe gesehen hatte.
Der verdammte Nebel war überall, deswegen ließ er sich wieder in Richtung Boden sinken. Je tiefer Raef tauchte, desto mehr lichtete sich der Nebel. Das Land unter ihm neigte sich steil, bis er in eine riesige Grube starrte, in der eine abwasserartige durchscheinende Flüssigkeit brodelte und wirbelte. Mit einem angeekelten Schaudern entdeckte er, dass in der FlüssigkeitMenschen trieben, die verzweifelt versuchten, nicht unterzugehen. Auf den ersten Blick schienen diese Menschen so farblos zu sein wie die Körper, die mit dem Land verschmolzen waren. Aber auf einmal flackerte ein Licht über das Gesicht einer der Schwimmerinnen – ehe die Frau von einer Welle erfasst wurde und ihr Kopf untertauchte, nur um Augenblicke später mit einem Keuchen und einem gequälten Schrei wieder aufzutauchen.
Raef erkannte ihre Stimme, noch bevor er das blasse angsterfüllte Gesicht erkannte.
„Lauren! “ , brüllte er und zwang sich, noch tiefer hinabzusinken – hinab zu ihr.
„Raef! Er ist hier! Er ist …“ Ihr Kopf tauchte wieder unter.
„Halt durch! Ich komme! “ Raef griff in das ölige Wasser und tastete in der kalten dunklen Flüssigkeit nach ihr. Doch seine Suche fand ein plötzliches Ende, als etwas Hartes ihn in den Magen traf und ihn in die Luft riss, fort von der Grube.
Er keuchte vor Schreck, als der Schmerz ihn durchfuhr. Vor seinen Augen verschwamm alles, und er musste blinzeln. Als Raef endlich wieder klar sehen konnte, erblickte er unter sich eine Kreatur, die am Rand der Grube ihre Kreise zog. Ihr echsenartiger Körper wand sich einmal ganz um die Grube herum. Die Kreatur hatte mehrere Schwänze, die aufgebracht nach ihm peitschten, und riss ein riesiges Maul voller Fangzähne auf, um ihn anzufauchen. Das Geräusch wirbelte die Flüssigkeit in der Grube noch weiter auf und ließ die Schwimmer, deren Gesichter jetzt kaum noch zu erkennen waren, aufschreien. Die Verzweifelten mussten noch heftiger kämpfen, um sich an der Oberfläche zu halten.
„Hör auf“ , brüllte Raef die Kreatur an, „du ertränkst sie noch alle! “
Das Echsenwesen öffnete wieder den Mund, und ein vertrautes Lachen drang über die Sickergrube hinauf. „Ssssicher“ , zischte es, „ich werde sie ertränken, aber erst, wenn ich sie so weit wie möglich ausgesaugt habe. Willst du dich ihnen anschließen? Dein scharlachrotes Licht wird sich gut in meiner Sammlung machen. “
Raef sah der Kreatur in die dunklen Augen – Augen, die er ebenso erkannte wie das Lachen und die Stimme.
Von der Braggs-Kreatur schaute er wieder zur Grube und sah, wie Laurens Kopf erneut untertauchte. Dieser Anblick spornte ihn an, und seine Antwort erklang klar und deutlich durch die Laute des Elends um ihn herum. „Ich
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