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Afterdark

Afterdark

Titel: Afterdark Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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hingegangen?
    Ohne dass wir eine Antwort erhalten hätten, verliert das Bild plötzlich seine Stabilität. Der Empfing wird heftig gestört, und Eri Asais Umrisse vibrieren und verschwimmen. Sie spürt, dass etwas Seltsames mit ihrem Körper vorgeht, und schaut sich um - zur Decke, auf den Fußboden und dann auf ihre zitternden Hände. Als ihr klar wird, dass die Umrisse ihre Schärfe verlieren, wirkt Eris Gesicht plötzlich verstört. Was geschieht hier? Dschiiiii, der bekannte übliche ohrenbetäubende Ton erhebt sich. Als begänne auf einem abgelegenen Hügel ein starker Wind zu wehen. Die Grenze oder Schnittstelle zwischen beiden Welten gerät heftig ins Wanken. Davon werden auch die Konturen von Eris Existenz beschädigt, ihre Person beginnt zu zerbröseln.
    »Du musst fliehen«, rufen wir ihr laut zu, unwillkürlich die uns auferlegte Neutralität vergessend. Natürlich erreicht unser Ruf Eri nicht. Dennoch spürt sie, dass sie in Gefahr ist, und versucht zu fliehen. Sie rennt in irgendeine Richtung, vielleicht zur Tür. Ihre Gestalt verschwindet aus dem Blickfeld der Kamera. Das Bild verliert rasch das wenige an Schärfe, das es eben noch hatte, es verzerrt sich und alle Formen lösen sich auf. Das Licht der Bildröhre wird schwächer, verkleinert sich allmählich auf die Größe eines winzigen quadratischen Fensters und kommt am Ende vollständig zum Erlöschen. Jegliche Art von Information ist zunichte geworden, der Ort demontiert, die Bedeutung aufgelöst, die Welt geteilt, zurück bleibt fühllose Stille.
    An einem anderen Ort zu einer anderen Uhrzeit. Eine runde elektrische Wanduhr. Ihre Zeiger stehen auf 4. Uhr 31. Es ist die Küche im Haus der Shirokawas. Shirokawa sitzt mit offenem Hemdkragen und gelockerter Krawatte allein am Esstisch und isst sein Naturjoghurt. Er hat sich keine Schale genommen, sondern löffelt direkt aus dem Plastikbecher.
    Er schaut auf den kleinen Fernsehapparat, der in der Küche steht. Neben dem Joghurtbecher liegt die Fernbedienung. Auf dem Bildschirm sieht man den Meeresgrund. Diverse Tiefseetiere in seltsamen Formen. Hässliche und schöne. Jäger und Gejagte. Das hochspezialisierte kleine Forschungs-U-Boot ist mit starken Scheinwerfern und präzisen Greifern ausgestattet. Es handelt sich um eine Natursendung mit dem Titel »Geschöpfe der Tiefsee«. Der Ton ist abgedreht. Während Shirokawa seinen Joghurt isst, verfolgt er mit ausdrucksloser Miene die Bewegungen auf dem Bildschirm. Mit seinen Gedanken ist er jedoch woanders. Sie kreisen um die Wechselbeziehung von Theorie und Praxis. Bringt die Theorie sekundär die Tat hervor oder ist sie umgekehrt nur eine Folge der Tat? Seine Augen verfolgen die Geschehnisse auf dem Bildschirm, aber in Wirklichkeit sieht er etwas, das weit jenseits des Bildschirms ist. Etwas, das sich vielleicht ein, zwei Kilometer dahinter befindet.
    Er schaut auf die Wanduhr. Die Zeiger stehen auf 4 Uhr 33. Der Sekundenzeiger gleitet über die Zahlen. Die Welt schreitet unablässig und kontinuierlich weiter. Theorie und Aktion gehen nahtlos ineinander über. Zumindest im Moment.

15
    04:33 Uhr
    Im Fernsehen läuft »Geschöpfe der Tiefsee«. Aber dies ist nicht der Apparat in Shirokawas Haus. Der Bildschirm ist viel größer. Mari und Grille sitzen vor einem Gerät im Hotel »Alphaville« und sehen mehr oder weniger aufmerksam zu. Jede sitzt in einem Sessel. Mari trägt ihre Brille. Ihre Stadionjacke und ihre Schultertasche liegen auf dem Boden. Grille verfolgt die Sendung eine Weile mit gelangweiltem Gesicht, verliert aber bald ganz das Interesse und zappt mit der Fernbedienung herum. Doch so früh am Morgen wird sie nicht fündig, es gibt nichts Interessantes. Sie resigniert und schaltet den Fernseher aus.
    »Bist du müde?«, fragt Grille. »Du solltest dich lieber ein bisschen aufs Ohr legen. Kaoru pennt schon die ganze Zeit im Ruheraum.«
    »Aber ich bin eigentlich noch nicht so müde«, sagt Mari. »Willst du dann vielleicht einen heißen Tee oder so was?«, fragt Grille.
    »Wenn es nicht zu viel Umstände macht.«
    »Wir haben genug Tee da, also kein Problem.«
    Grille nimmt Teebeutel und brüht mit heißem Wasser aus der Thermoskanne zwei Tassen grünen Tee auf.
    »Wie lange arbeitest du eigentlich, Grille?«
    »Von zehn Uhr abends bis zehn Uhr morgens, mit Kamille zusammen. Wenn die Übernachtungsgäste weg sind und wir alles sauber gemacht haben, ist Schluss. Zwischendurch machen wir mal ein Nickerchen.«
    »Arbeitest du schon lange

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