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Agent 6

Titel: Agent 6 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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einen Cent wert ist! Die Arbeiter sollen dankbar sein, wenn sie ein paar Dollar für ihre Mühen verdienen, während die Unternehmen Millionen scheffeln. Nicht hier! Nicht in diesem Land! Ich sage es der ganzen Welt – es geht auch anders! Ich sage es noch einmal – es geht auch anders! Ich habe es selbst gesehen.
    Die Anzugträger umringten Austin wie ein Schutzwall, lachten dabei und applaudierten. Leo überlegte, wie viele Bauern wohl Agenten der Staatssicherheit waren. Alle, vermutete er. Einem echten Bauern würde man niemals zutrauen, eine solche Show abzuziehen.
    Der Film endete. Ihr vorgesetzter Offizier, Major Kuzmin, ging nach vorne. Auf einen Außenstehenden würde der untersetzte Mann mit der dicken Brille vielleicht einen lustigen Eindruck machen, aber nicht auf die Offiziere des MGB . Sie wussten, welche Macht er besaß und wie schnell er bereit war, sie einzusetzen. Er erklärte:
    – Diese Aufnahmen wurden 1934 gemacht, als Mr. Austin siebenundzwanzig Jahre alt war. Seine Begeisterung für unser Regime ist ungebrochen. Aber woher wissen wir, dass er kein amerikanischer Spion ist? Wie können wir sicher sein, dass er den Kommunisten nicht nur spielt?
    Leo wusste ein wenig über den Sänger. Er hatte seine Lieder im Radio gehört und mehrere Artikel über ihn gelesen. Keiner davon wäre veröffentlicht worden, wenn man den Amerikaner nicht für wertvoll hielte. Weil er merkte, dass Kuzmins Fragen rein rhetorisch waren, sagte er nichts und wartete, bis Kuzmin weitersprach und aus einer Akte vorlas:
    – Mr. Jesse Austin wurde 1907 in Braxton, Mississippi, geboren und zog im Alter von zehn Jahren mit seiner Familie nach New York. Zahlreiche Negerfamilien verließen den Süden, wo sie verfolgt wurden. In den Mitschriften, die ich Ihnen gegeben habe, erzählt Mr. Austin ausführlich von seinen Erfahrungen. Der Hass dort sorgt für enorme Unzufriedenheit unter den schwarzen Amerikanern, er ist ein wirkungsvolles Instrument, um sie für den Kommunismus anzuwerben, vielleicht das wirkungsvollste, das wir besitzen.
    Leo blickte zu seinem vorgesetzten Offizier auf. Er sprach von Hass nicht als einer Untat, es gab kein Falsch oder Richtig, alles wurde politisch eingeordnet. Es ging nicht um Empörung, sondern um Berechnung und Analyse. Kuzmin fing Leos Blick auf.
    – Möchten Sie etwas sagen?
    Als Leo den Kopf schüttelte, las Kuzmin weiter:
    – Mr. Austins Familie zog 1917 um, wie viele andere. In dieser Zeit fand eine Massenmigration vom Süden in den Norden statt. Von allen Erfahrungen mit Hass, die Jesse Austin gemacht hat, nehmen wir an, dass es der Hass in New York war, durch den er zum Kommunisten wurde. Dort hassten ihn nicht nur die weißen Familien, sondern auch die Negerfamilien der Mittelklasse, die sich in diesem Gebiet bereits etabliert hatten. Sie hatten große Angst davor, die Migranten würden die Städte im Norden überschwemmen. Es war ein prägender Moment für ihn, als er sah, wie Menschen, die sich mit den Neuankömmlingen solidarisch zeigen sollten, sich gegen sie stellten. Er wurde Zeuge, wie Klassenunterschiede selbst die engste Gemeinschaft spalten.
    Leo blätterte seine Kopie der Akte durch. Sie enthielt nur ein Foto des jungen Mr. Austin mit seinen Eltern. Mutter und Vater, den jungen Austin zwischen sich, standen so stocksteif aufgerichtet, als würde die Kamera sie nervös machen. Kuzmin fuhr fort:
    – In New York hat sein Vater als Fahrstuhlführer in einem heruntergekommenen Hotel namens The Skyline gearbeitet, das mittlerweile bankrottgegangen ist. Dieses Hotel war ein Musterbeispiel für die Dekadenz kapitalistischer Großstädte – ein Ort, an dem mit Drogen gehandelt und Prostitution betrieben wurde. Soweit wir wissen, war sein Vater nicht in diese illegalen Aktivitäten verwickelt. Er wurde zwar häufig festgenommen, aber jedes Mal ohne Anklage wieder freigelassen. Seine Mutter hat als Dienstmädchen gearbeitet. Austin sagt, er hätte in seiner Kindheit weder unter Schlägen noch unter betrunkenen Eltern gelitten, stattdessen hätten die elenden Lebensumstände seine Familie zerstört. Ihr Zimmer war im Winter kalt und im Sommer heiß. Sein Vater starb, als Jesse Austin gerade zwölf Jahre alt war. Er hatte sich eine Lungentuberkulose zugezogen. Die Vereinigten Staaten besitzen zwar bewundernswerte medizinische Einrichtungen, aber sie stehen nicht allen offen. Die Metropolitan Life Insurance Company in New York hat zum Beispiel eines der fortschrittlichsten

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