Agent 6
erwischt worden war, stand Leo auf und fragte sich, wie spät es sein mochte.
– Ist alles in Ordnung?
Er sammelte seine Gedanken, dann erinnerte er sich – die Akte.
Wortlos lief er aus dem Büro. Die Flure waren voll, alle Mitarbeiter kamen gerade zur Arbeit. Leo ging schneller, drängte sich an seinen Kollegen vorbei und erreichte das Zimmer, in dem die Berichte zur weiteren Bearbeitung gesammelt wurden. Er ignorierte die Frage einer Frau, ob er Hilfe bräuchte, und durchsuchte den Aktenstapel nach den Unterlagen über die Künstlerin Polina Peschkowa. Ihre Akte hatte ganz oben gelegen. Vor gerade einer Stunde hatte er sie dort deponiert. Die Sekretärin fragte ihn noch einmal, ob er Hilfe bräuchte.
– Hier lag eine Akte.
– Die sind weg.
Peschkowas Fall wurde schon bearbeitet.
Am selben Tag
Leo suchte in Grigoris Gesicht nach einem Anzeichen von Hass oder Abscheu. Offenbar wusste sein Protegé nicht, dass die Akte von Polina Peschkowa weitergereicht war. Er würde es früh genug herausfinden. Leo sollte der Entdeckung besser mit einer Erklärung zuvorkommen, mit einer Entschuldigung – er war erschöpft gewesen, er hatte nur einen kurzen Blick auf das Dokument geworfen und es dann auf den falschen Stapel gelegt. Andererseits gab es keinen Grund, die Sache zu erwähnen. Gegen die Künstlerin lagen nur dürftige Beweise vor. Man würde ihre Akte durchsehen und die Untersuchung einstellen. Und bearbeitet werden würde sie so oder so, Leo hatte den Vorgang nur beschleunigt. Im schlimmsten Fall würde man sie zu einem kurzen Gespräch herbestellen. Danach würde sie weiterarbeiten können. Grigori könnte sich wieder mit ihr treffen. Leo schob die Gedanken an die Frau beiseite und konzentrierte sich auf die anstehende Aufgabe – auf ihren nächsten Fall. Grigori fragte:
– Ist alles in Ordnung?
Leo legte ihm eine Hand auf den Arm:
– Ja, natürlich.
*
Das Licht war ausgeschaltet, der Projektor im hinteren Teil des Zimmers surrte. Auf der Leinwand erschienen Bilder eines idyllischen, bäuerlichen Dorfes. Die Häuser waren aus Holz gebaut, ihre Dächer mit Stroh gedeckt. In den kleinen Gärten blühten üppige Sommerkräuter. Fette Hennen pickten Körner auf, die von übervollen Keramiktöpfen rieselten. Alles war im Überfluss vorhanden, inklusive Sonnenschein und guter Laune. Die Bauern trugen traditionelle Kleidung, gemusterte Tücher und weiße Hemden. Sie liefen durch Maisfelder zu ihrem Dorf zurück. Die Sonne strahlte aus wolkenlosem Himmel. Die Männer waren stark. Die Frauen waren stark. Alle hatten die Ärmel hochgekrempelt. Mitreißende Musik wurde von einem nüchternen Nachrichtenkommentar abgelöst:
– Diese Bauern bekommen heute überraschenden Besuch.
In der Dorfmitte standen mehrere Männer im Anzug, sie wirkten unbeholfen und fehl am Platz. Mit einem Lächeln auf den feisten Gesichtern führten die Anzugträger ihren Ehrengast durch die pittoreske Umgebung. Der Besucher war ein Mann Ende zwanzig, groß, untersetzt und gutaussehend. Durch geschickte Filmschnitte wirkte es, als läge ständig ein Lächeln auf seinem Gesicht. Vielleicht war er aber auch nur ein fröhlicher Mensch. Die Hände hatte er in die Hüften gestemmt. Er trug keine Jacke und hatte die Ärmel aufgekrempelt, genau wie die Bauern. Im Gegensatz zu der vorgespielten ländlichen Pantomime um ihn herum schien seine Begeisterung echt zu sein. Der Kommentar lief weiter:
– Der weltberühmte Negersänger und engagierte Kommunist Jesse Austin besucht ein ländliches Dorf bei seiner Reise durch dieses großartige Land. Obwohl er ein Bürger der Vereinigten Staaten ist, hat sich Mr. Austin als treuester Freund der Sowjetunion bewiesen. Er singt über unser Leben und den Glauben dieses Landes an Freiheit und Gerechtigkeit.
Der Film zeigte jetzt eine Nahaufnahme von Mr. Austin. Seine Antworten wurden auf Russisch nachgesprochen, in den Pausen zwischen der Übersetzung waren noch englische Wortfetzen zu hören.
– Ich habe eine Botschaft an die ganze Welt! Dieses Land liebt seine Bürger! Dieses Land ernährt seine Bürger! Hier gibt es Essen! Mehr als genug! Die Geschichten über Hungersnöte sind erlogen. Die Geschichten über Not und Elend sind nichts weiter als die Propaganda kapitalistischer Großunternehmer. Sie wollen euch einreden, sie könnten euch als Einzige das geben, was ihr braucht. Sie wollen, dass ihr lächelt und »danke« sagt, wenn ihr einen Dollar für Essen bezahlt, das gerade einmal
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