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Agnes: Roman (German Edition)

Agnes: Roman (German Edition)

Titel: Agnes: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Stamm
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Seurat hatte keine glücklichen Menschen gemalt, aber das Bild strahlte eine Ruhe aus, die dem, was wir suchten, am nächsten kam. Es zeigt ein Flußufer an einem Sonntagnachmittag. Spaziergänger sind da, und hier und da auf der Wiese, zwischen den Bäumen, ruhen sich Menschen aus.
    Als wir näher traten, zerfiel das Bild vor unseren Augen in ein Meer von kleinen Punkten. Die Konturen verschwammen, die Flächen flossen ineinander. Die Farben auf dem Bild waren nicht gemischt, sondern zusammengesetzt wie auf einem Gobelin. Es gab kein reines Weiß und Schwarz. Jede Fläche enthielt alle Farben und wirkte erst aus der Distanz als Ganzes. »Das bist du«, sagte ich und zeigte auf ein junges Mädchen, das im Mittelgrund des Bildes auf der Wiese saß und einen Blumenstrauß in der Hand hielt. Es saß aufrecht, aber es hielt den Kopf gesenkt, um die Blumen zu betrachten. Neben ihm lagen ein Hut und ein Sonnenschirm, die es nicht brauchte, da es im Schatten war.
    »Nein«, sagte Agnes, »ich bin das Mädchen im weißen Kleid. Und du bist der Affe.«
    »Ich bin der Mann mit der Trompete«, sagte ich, »aber niemand hört mir zu.«
    »Alle hören dich«, sagte Agnes. »Man kann die Ohren nicht schließen.«
    Wir gingen in das Lokal, das nach eigenen Angaben den besten Cheesecake Chicagos serviert, aber Agnes war nicht zufrieden mit dem Kuchen und sagte, sie werde mir einen besseren backen, mit Rosinen.
    »Glück malt man mit Punkten, Unglück mit Strichen«, sagte sie. »Du mußt, wenn du unser Glück beschreiben willst, ganz viele kleine Punkte machen wie Seurat. Und daß es Glück war, wird man erst aus der Distanz sehen.«

15
    Der zweite Montag im Oktober war Columbus Day, und wir nutzten das verlängerte Wochenende, um aus der Stadt herauszukommen. Ich hatte vorgeschlagen, nach New York zu fahren, aber Agnes sagte, sie wolle eine Wanderung machen, eine richtige Wanderung diesmal. Ich war einverstanden, und weil die Wetterprognose gut war, entschlossen wir uns, mein kleines Zelt mitzunehmen und zu kampieren. Auf der Karte fanden wir einen Nationalpark, nicht weit von Chicago entfernt. Wir mieteten ein Auto und fuhren früh am Freitagmorgen in Richtung Süden.
    Agnes hatte sich von ihrem Professor eine Videokamera ausgeliehen, und schon, während ich fuhr, filmte sie wahllos aus dem Fenster. Vor Indianapolis wurde der Verkehr dichter. Jetzt fuhr Agnes, und ich wollte sie am Steuer filmen.
    »Laß«, sagte sie, »sonst machst du sie kaputt. Mein Professor bringt mich um. Es ist sein Lieblingsspielzeug.«
    »Ich mache sie schon nicht kaputt«, sagte ich, »sonst bist du ja nie im Bild.«
    »Du schreibst, und ich filme«, sagte Agnes.
    Wir seien zu früh für den Indian Summer , sagte der Aufseher am Eingang des Nationalparks und empfahl uns für unsere Wanderung ein Gebiet, das seit fünfzig Jahren Wildnis war. Anfang des Jahrhunderts hätten dort noch Bauern gelebt, sagte er, aber während der Wirtschaftskrise in den dreißiger Jahren seien sie in Massen emigriert, und der Staat habe das Gebiet aufgekauft und zur Wildnis erklärt.
    »Wie kann man das?« fragte Agnes.
    »Wir überlassen es sich selbst«, sagte der Aufseher, »in wenigen Jahren hat die Natur sich alles zurückgeholt. Die Zivilisation ist nur eine dünne Haut, die sofort reißt, wenn man sie nicht mehr pflegt.«
    Agnes filmte das kleine Pförtnerhaus und den Parkaufseher, wie er mir auf der Karte den Weg erklärte. Er winkte ab und lachte in die Kamera, und Agnes lachte auch. Dann sagte er, wir sollten vorsichtig sein, und gab uns eine Broschüre über giftige Pflanzen und wilde Tiere. Viele Leute unterschätzten die Gefahren, sagte er, die Natur verstehe keinen Spaß.
    »Warum hast du den Parkaufseher gefilmt und nicht mich«, fragte ich, als wir über eine schmale Waldstraße in das Innere des Parks fuhren.
    »Er ist ein Zeuge«, sagte Agnes.
    Nach einigen Meilen Fahrt kamen wir zu einem Parkplatz und stellten den Wagen ab. Es war schon fast Mittag, als wir endlich losgingen. Wir wanderten stundenlang durch waldiges Gebiet. Manchmal glaubten wir, auf Wegen zu sein, dann endeten die Spuren plötzlich, und wir gingen nach dem Kompaß quer durch den Wald.
    »Wir sollten Zweige knicken«, sagte Agnes, »damit wir zurückfinden.«
    »Wir gehen nicht zurück«, sagte ich, »nicht diesen Weg.«
    Von Zeit zu Zeit kamen wir an Ruinen von Farmen vorbei, an Orten, wo die Bäume jünger schienen und weniger dicht beieinander standen. Als es dämmerte, kamen wir über

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