Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Agnes: Roman (German Edition)

Agnes: Roman (German Edition)

Titel: Agnes: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Stamm
Vom Netzwerk:
du, dauert es, bis man keine Spuren mehr sieht?« fragte Agnes.
    »Ich weiß es nicht. Es wird alles überwuchert, aber darunter bleibt immer etwas. Scherben, Draht.«
    Die Türen der Häuser waren mit Brettern vernagelt, an denen Schilder vor dem Betreten warnten. Als wir in einen kleinen Schuppen traten, dessen eine Wand eingestürzt war, flatterte ein großer Vogel laut zeternd an uns vorbei ins Freie. Wir erschraken. Auf dem Boden lagen die morschen Bretter der eingestürzten Wand. Hinten im Schuppen, dort wo er an die Rückwand eines Hauses stieß, lag ein Haufen trockenes Laub. Daneben ein Kreis von rußigen Steinen, eine kleine Feuerstelle. Überall auf dem Boden lagen leere, rostige Büchsen und einige zerbrochene Flaschen.
    »Meinst du, daß hier noch jemand wohnt?« fragte Agnes.
    »Die Büchsen sehen ziemlich alt aus. Aber nicht fünfzig Jahre alt. Vielleicht waren es Wanderer wie wir.«
    »Vielleicht leben noch Menschen in diesem Gebiet, von denen niemand etwas weiß. Es muß schwierig sein, das alles zu kontrollieren.«
    »Man würde den Rauch sehen, im Winter. Von einem Flugzeug aus.«
    »Ich möchte nicht hier übernachten«, sagte Agnes. »Ich hätte immer das Gefühl, in einem fremden Haus zu sein. Von unserer Generation wird nur der Schmutz zurückbleiben.«
    Am Rande der verlassenen Siedlung fanden wir eine zerfallene Kirche. Dahinter lag ein kleiner Friedhof. Hier standen die Bäume schon fast wieder so dicht wie im Wald, der sich gleich hinter dem Friedhof den Hügel hinaufzog. Die meisten Grabsteine lagen ohne Ordnung umgekippt auf dem waldigen Boden. Wir entzifferten einige Namen und Lebensdaten.
    »Die Toten wissen nicht, daß das Dorf verlassen wurde«, sagte Agnes.
    »Willst du nicht filmen?« fragte ich.
    »Nein«, sagte sie, »man filmt nicht auf einem Friedhof.«
    Sie lehnte sich an einen Baumstamm.
    »Stell dir vor, in wenigen Wochen liegt hier Schnee, und dann kommt für Monate niemand hierher, und alles ist ganz still und verlassen. Es heißt, zu erfrieren sei ein schöner Tod.«
    Wir gingen weiter, gingen den ganzen Tag lang und gingen auch am nächsten Tag. Der Himmel hatte sich bewölkt, und wir waren froh, als wir am frühen Nachmittag des dritten Tages endlich wieder zum Parkplatz kamen. Während der Heimfahrt schlief Agnes. Kurz nach Indianapolis begann es zu regnen, und es regnete noch immer, als wir Chicago erreichten.

17
    Einige Tage lang hatte es geregnet, und wir glaubten schon, der Winter sei nun endgültig gekommen, als es noch einmal warm wurde. Es roch nach Sommer, und die Stadt lag in goldenem Licht. Agnes war in der Universität, und ich ging in den Grant Park. Ich hatte Brote mitgenommen und aß sie auf einer Bank. Dann spazierte ich bis zum Planetarium und zurück. Ich hatte eine warme Jacke angezogen, und als ich in die Wohnung zurückkam, schwitzte ich und war schläfrig. Ich kochte mir einen Kaffee, aber ich wurde nicht wach davon, nur unruhig. Dennoch setzte ich mich an den Computer. Das gleißende Licht der Sonne blendete mich. Ich schloß die Rolläden. Die Klimaanlage summte monoton. Ich schrieb.
An einem Sonntag im November gingen wir in den Lincoln Park Zoo, unten am See. Es war einer jener warmen Tage, die einen in Chicago bis spät im Jahr überraschen können. Eine Zeitlang schauten wir uns die Tiere an.
»Eigentlich mag ich den Zoo nicht. Er macht mich traurig«, sagte Agnes. »Ich war schon so lange nicht mehr hier, daß ich es vergessen habe.«
Wir schlenderten weiter durch die Anlage, aber die Tiere schauten wir uns kaum mehr an. Als es Mittag wurde, setzten wir uns auf eine Bank. Wir hatten Brote mitgebracht und eine Thermosflasche mit Tee, aber wir hatten vergessen, Becher einzupacken. Als Agnes aus der Flasche trank, verschüttete sie etwas Tee auf ihren Pullover. Sie lachte, und ich wischte den Fleck mit meinem Taschentuch trocken. Wir schauten uns an und umarmten uns stumm.
»Willst du mich heiraten?« fragte ich.
»Ja«, sagte sie ganz selbstverständlich, und auch ich war nicht erstaunt über meine plötzliche Frage.
    Ich wußte nicht, wie ich fortfahren sollte. Da ich noch immer müde war, legte ich mich aufs Sofa und versuchte, die Geschichte weiterzudenken. Ich dachte daran, wie ich Agnes mein Land zeigen würde, wie wir gemeinsam in den Bergen wandern würden. Ich versuchte, mir unsere Wohnung vorzustellen, die Möbel und Bilder, die wir zusammen auswählen und kaufen würden, und wie es klingen würde, wenn Agnes ihre ersten deutschen

Weitere Kostenlose Bücher