Agnes: Roman (German Edition)
Sätze sprach.
Es war kein Traum. Ich lenkte meine Gedanken selbst. Alles, was ich mir vorstellte, wurde sogleich lebendig. Es war, als ginge ich durch einen Hohlweg, den ich nicht verlassen konnte. Versuchte ich es dennoch, so spürte ich Widerstand, als sei ein fremder Wille da, eine Art elastischer Fessel, die mich hinderte, wenn ich in die falsche Richtung ging.
Ich sah Agnes in einem engen Treppenhaus stehen, ohne zu wissen, wo wir waren und wie wir hierhergekommen waren. Die kahlen Betonwände waren gelb gestrichen, und Licht kam nur von Neonröhren über den Treppenabsätzen. Agnes lehnte in einer Ecke und schaute mich zugleich ängstlich und wütend an.
Dann sagte sie: »Ich wollte dich nie heiraten. Du machst mir angst.«
Ich bewegte mich langsam auf sie zu. »Du hast mich nie geliebt«, sagte ich, »immer hast du an diesen Herbert gedacht, wenn wir zusammen waren.«
Agnes drückte sich an der Wand entlang zur Treppe, ohne mich aus den Augen zu lassen.
»Du bist verrückt!« schrie sie mich an. »Du bist krank.«
Ich wollte mich schneller bewegen, aber etwas hinderte mich daran. Agnes hatte die Treppe erreicht, drehte sich um und rannte davon, hinauf. Sofort verlor ich sie aus den Augen und hörte nur noch ihre Schritte und meinen Atem, der unnatürlich laut war. Es war mir, als atme ich zugleich ein und aus. Ich lief die Treppe hinauf, sie schien kein Ende zu nehmen. Dann hörte ich eine Tür zuschlagen, die ich kurz darauf erreichte. Sie hatte keine Klinke. Ich preßte mein Ohr gegen das kalte Metall und hörte Agnes ganz nahe flüstern: »Du bist tot.«
Ich hatte die ganze Zeit über die Augen nicht geschlossen, das Zimmer um mich herum war zu einem verschwommenen Bild geworden. Irgend etwas riß mich in die Realität zurück, und ich stand auf und ging ins Arbeitszimmer zurück, um zu schreiben, was ich gesehen hatte. Jetzt spürte ich bei jedem Satz, ob Agnes einverstanden war oder nicht. Obwohl ich wußte, daß es eine Traumfigur war, die mich führte, deprimierten mich ihre Worte. Ich hatte in Wirklichkeit nie daran gedacht, Agnes zu fragen, ob sie mich heiraten wolle, aber ich bildete mir ein, ihre Gefühle unbewußt erraten zu haben.
18
Zu Halloween, dem letzten Tag im Oktober, veranstaltet die Universität jedes Jahr einen Umzug. Agnes hatte mir oft davon erzählt, von den Kostümen, die sie in früheren Jahren getragen hatte, und von der wilden Party, die anschließend in der Aula stattfand. Schon vor Wochen hatte sie mit ihren Kolleginnen vom Streichquartett begonnen, Kostüme zu nähen. Sie wollten sich als Elfen verkleiden. Ich habe seit jeher eine Abneigung gegen Masken und Verkleidungen, und so war ich froh, als ich eine Einladung zur Halloween-Party der Amtrak, der amerikanischen Bahngesellschaft, erhielt und eine Entschuldigung hatte, nicht am Umzug teilzunehmen. Agnes war enttäuscht. »Ich bin auf die Hilfe von Amtrak angewiesen«, sagte ich, »und wenn sie mich einladen, kann ich nicht gut absagen.«
»Aber ich habe dich schon vor Monaten eingeladen«, sagte Agnes.
»Wir können ja sonst immer zusammensein«, sagte ich, »ich bleibe nur solange wie unbedingt nötig. Nachher komme ich zur Party in die Universität.«
»Da kannst du selber schauen, wie du mich findest. Mein Kostüm kriegst du vor dem Umzug jedenfalls nicht zu sehen.«
Agnes war mir noch immer böse, als sie am Abend von Halloween die Wohnung verließ. Das Kostüm hatte sie in eine Sporttasche gestopft. Ich sagte, sie solle sich darunter warm anziehen, die Nacht werde kalt. Aber sie antwortete nicht, auch nicht, als ich sagte, ich werde bestimmt vor Mitternacht in der Uni sein.
Die Halloween-Party bei Amtrak war nichts Besonderes. Aber als ich draußen den Umzug vorbeiziehen hörte, war ich froh, nicht dort unten in dem Trubel zu sein. Ich trat auf den Balkon und versuchte zu erraten, in welchem Kostüm Agnes steckte. Es gab unzählige Hexen und Skelette, Monster und Vogelscheuchen. Manche hatten sich mit Leuchtfarben bemalt oder gingen auf Stelzen.
»So stellen sie sich das Böse vor«, sagte eine Frau, die neben mich auf den Balkon getreten war. Sie sprach mit einem leichten französischen Akzent und sagte in spöttischem Ton: »Diese Geister kommen nicht aus der Unterwelt, die kommen aus dem Vorabendprogramm.«
»Sie sind nicht von hier?« fragte ich.
»Nein, bewahre«, sagte sie lachend, »schauen Sie nur, wie sie sich benehmen.«
Unten auf der Straße hatte eine Gruppe von Skeletten eine wilde
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