Agnes: Roman (German Edition)
einen Hügel und sahen unter uns den See, an dem wir kampieren wollten. Aber es dauerte noch fast eine Stunde, bis wir endlich das Ufer erreichten.
Die Sonne war untergegangen, und es war kühl geworden. Dicht am See war der Boden sandig, und dort stellten wir das Zelt auf. Dann sammelten wir Fallholz, das im Wald überall auf dem Boden lag. In wenigen Minuten hatten wir einen großen Stoß beisammen.
»Ich mache Feuer«, sagte Agnes, »das hat mir mein Vater beigebracht.«
Sie stellte einige Äste zu einer Pyramide zusammen, schob eine Handvoll Reisig darunter und sagte: »Ein Streichholz.«
Wirklich schaffte sie es, das Feuer mit einem Streichholz anzuzünden. Ich kochte Suppe auf meinem kleinen Benzinkocher. Wir setzten uns auf eine der Liegematten und aßen und schauten auf den See hinaus. Er lag dunkel und ruhig da. Nur manchmal hörten wir, wie ein Fisch sprang, und einmal, weit entfernt, ein Flugzeug vorüberfliegen.
Obwohl wir dicht beim Feuer saßen, fror Agnes. Sie hole ihren Schlafsack, sagte sie und ging zum Zelt. Sie wurde unsichtbar, sobald sie aus dem Lichtkreis des Feuers trat. Dann hörte ich ein Stöhnen und ein Geräusch. Ich sprang auf und fand Agnes nur wenige Meter von mir entfernt am Boden liegen. Jetzt, mit dem Licht im Rücken, konnte ich sie deutlich sehen. Mit seltsam verrenkten Beinen lag sie auf dem feuchten Sand. Ich hob sie hoch, fiel fast hin dabei und trug sie zur Liegematte. Selbst im warmen Licht des Feuers schienen ihr Gesicht und ihre Lippen kreidebleich. Ich schob meine Hand unter ihren dicken Wollpullover und fühlte ganz schwach ihren Herzschlag. Ihre Stirn war feucht und kalt. Ich setzte mich neben sie, wiederholte immer wieder ihren Namen und streichelte ihren Kopf.
Ich hatte panische Angst. Wir mußten Stunden vom nächsten bewohnten Haus entfernt sein, und jetzt, in der Nacht, wäre es unmöglich gewesen, im Wald den Weg zu finden. Ich holte die Feldflasche und träufelte etwas Wasser in Agnes’ leicht geöffneten Mund. Sofort fiel mir ein, wie dumm es war, einer Bewußtlosen Wasser einzuflößen, und ich zog sie hoch zu mir und schüttelte sie. Schlaff und schwer lag sie in meinen Armen. Dann endlich spürte ich, wie sich ihr Körper gegen das Schütteln wehrte und wie sie langsam wieder zu sich kam.
»Bin ich in Ohnmacht gefallen?« fragte sie.
»Ich habe gemeint, du seist …«, sagte ich, »es sei dir etwas geschehen.«
»Mein Kreislauf«, sagte sie, »vielleicht habe ich nicht genug gegessen. Es ist nichts.«
Ich wollte sie zum Zelt tragen, aber sie weigerte sich und sagte, sie sei nicht krank. Sie sagte nicht mehr viel an diesem Abend, nur daß sie müde sei und daß es ihr besser gehe.
16
Als ich am nächsten Morgen aufwachte, war Agnes schon wach. Sie sagte, ihr sei übel und ob ich ihr nicht etwas Wasser bringen könne. Nachdem sie das Wasser getrunken hatte, fühlte sie sich besser und war ganz zufrieden. Sie streckte sich gähnend in ihrem Schlafsack, und ich kniete neben ihr und schaute sie an. Erst jetzt sah ich, daß ihr Gesicht vom gestrigen Sturz zerkratzt war.
»Du siehst aus wie eine Wilde«, sagte ich, und sie packte mich mit beiden Armen um den Hals und zog mich zu sich herunter.
»Komm ein bißchen in meinen Schlafsack und mach mich gesund«, sagte sie.
Es war kalt im Zelt, und unser Atem dampfte, aber wir froren nicht. Wir hatten beide Schlafsäcke geöffnet und einen unter, den anderen über uns gelegt.
»Bist du sicher, daß niemand in der Nähe ist?« fragte Agnes.
Dann traf die Sonne das Zelt, und es wurde ganz hell darin und schnell wärmer. Als wir endlich ins Freie krochen, war es so warm, daß Agnes sich auszog und sich im kalten Wasser des Sees wusch. Und dann liebten wir uns noch einmal, draußen auf dem sandigen Ufer, und Agnes wusch sich noch einmal, und auch ich mußte mich waschen, denn ich war voller Sand.
»Man ist viel nackter unter freiem Himmel«, sagte ich.
»Aber man könnte so leben«, sagte Agnes, »nackt und ganz nah an allem.«
»Hast du keine Angst mehr, in der Natur unterzugehen? Zu verschwinden?«
»Nein«, sagte sie und spritzte mich an, »heute nicht.«
Wir verließen den See und gingen weiter durch den Wald. Wir kamen in ein langgezogenes Tal, wo wir auf alte, verrostete Eisenbahngleise stießen. Auf dem ehemaligen Bahndamm kamen wir gut voran. Das Tal weitete sich, und links und rechts des Gleises standen die Ruinen einiger Holzhäuser. Wir liefen zwischen den Häusern herum.
»Wie lange, glaubst
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