Agnes: Roman (German Edition)
und sogar an ihrer Beerdigung gewesen waren. Agnes hatte großen Anteil an ihr genommen und den Angehörigen der Toten mehrmals geschrieben.
Herbert erwähnte ich nicht in der Geschichte, und Agnes meinte, ich sei eifersüchtig, und schien sich darüber zu freuen. Die wenigen Male, die wir auf ihn zu sprechen kamen, wich sie meinen Fragen aus oder gab nur vage Antworten. Über ihre Kindheit sprach sie ungern, erzählte nur manchmal – wenn sie guter Laune war – die eine oder andere Episode und hörte jedesmal so unerwartet wieder auf, wie sie begonnen hatte. Mein Text war schon viel zu lang geworden, als ich spät im August endlich die Gegenwart erreichte.
Es war lange regnerisch gewesen, als Anfang September ein kühler, aber trockener Wind von Norden her über den See wehte und die Wolken vertrieb. Wir hatten beschlossen, den Tag draußen zu verbringen. Agnes war nach Hause gegangen, um sich umzuziehen, und als sie zurückkam, rief sie mich von unten aus der Eingangshalle an, damit wir nicht noch mehr Zeit verlören. Sie wartete in einem der schwarzen Ledersessel und wirkte seltsam fremd. Sie trug dunkelblaue Knickerbocker, ein weißes T-Shirt und schwere Schuhe, die aussahen, als seien sie noch nie getragen worden.
»Wir gehen in einen Park«, sagte ich, »nicht ins Hochgebirge.«
»Es ist ein Wald, kein Park«, sagte Agnes. »Ich habe gemeint, wir wollen wandern.«
»Ja schon«, sagte ich, und als Agnes skeptisch auf meine Halbschuhe blickte: »Ich kann stundenlang gehen in diesen Schuhen.«
Im Park gab es viele Kanäle und Seen, und wir gingen nie lange, bis wir uns wieder irgendwo ans Wasser setzten und redeten. Ich sagte Agnes, sie sehe heute anders aus als sonst, und sie sagte, sie habe ihren Pony geschnitten. Dann mußte ich sie festhalten, damit sie sich über das Wasser des kleinen Sees beugen und ihr Spiegelbild betrachten konnte.
»Ist es schlimm?« fragte sie.
»Ich glaube nicht, daß das der Grund ist.«
Wir hatten eine Decke mitgebracht und Sandwiches, und am späten Nachmittag legten wir uns auf einer kleinen Lichtung in die Sonne. Nachdem wir gegessen hatten, schlief Agnes ein, aber ich war nicht müde und setzte mich auf, um zu rauchen. Die Sonne schien flach durch die Bäume und warf Lichtflecken auf Agnes’ ruhenden Körper. Ich schaute sie an und erkannte sie nicht. Ihr Gesicht erschien mir wie eine unbekannte Landschaft. Die geschlossenen Augen waren zu zwei Hügeln geworden, die sich in den flachen Kratern der Augenhöhlen wölbten, die Nase war ein feiner Grat, der gleichmäßig emporstieg, um dann breit gegen den Mund hin abzufallen. Ich bemerkte zum erstenmal die flaumigen Mulden seitlich der Augen, die Rundung des Kinns und der Wangen. Das ganze Gesicht schien mir fremd, unheimlich, und doch war es mir, als sähe ich es wirklicher als jemals zuvor, unmittelbar. Obwohl ich Agnes nicht berührte, hatte ich das beängstigende und zugleich berauschend schöne Gefühl, sie wie eine zweite Haut einzuhüllen, ihren ganzen Körper auf einmal dicht an mir zu spüren.
Ich bewegte mich nicht. Die letzten Sonnenstrahlen waren von der Wiese verschwunden, und es wurde kühler. Agnes’ Mund verzog sich unwillig, und ihre Stirn wellte sich einen Augenblick lang. Dann erwachte sie. Ich legte mich neben sie und drückte sie an mich.
»Was hast du?« fragte sie und schaute mir erstaunt in die Augen.
Ich wich ihrem Blick aus, aber ich ließ sie nicht los, drückte sie noch fester an mich und küßte ihren Hals und ihr Gesicht. Sie lächelte.
»Ich hatte ein seltsames Gefühl«, sagte ich, »daß ich dir ganz nahe sei.«
»Und bist du es noch?« fragte sie.
Ich antwortete nicht, und auch Agnes sagte nichts mehr und hielt mich nur fest, als fürchte sie, ich entferne mich wieder von ihr. Später sagte ich zu ihr, daß ich sie liebe, aber es genügte nicht, und weil ich nicht wußte, wie sonst ich das Gefühl beschreiben sollte, schwieg ich wieder, und wir sprachen den ganzen Abend kaum.
12
Meine Liebe zu Agnes hatte sich verändert, war nun anders als alles, was ich früher gekannt hatte. Ich fühlte eine fast körperliche Abhängigkeit, hatte das demütigende Gefühl, nur ein halber Mensch zu sein, wenn sie nicht da war. Während ich in früheren Beziehungen immer viel Zeit für mich alleine beansprucht hatte, konnte ich Agnes nicht oft genug sehen. Seit unserer Wanderung im Park dachte ich dauernd an sie und kam nur noch wirklich zur Ruhe, wenn sie bei mir war und ich sie anschauen, sie
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