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Agnes: Roman (German Edition)

Agnes: Roman (German Edition)

Titel: Agnes: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Stamm
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heute kümmert es keinen mehr.«
    Sie lehnte sich mit dem Rücken an eines der Gestelle, auf denen sich staubige Kartonschachteln stapelten. Das Archiv lag im obersten Stock des Gebäudes, und die Luft war heiß und trocken. Nur von oben fiel Licht durch Schächte, die mit Plexiglashauben abgedeckt waren. Wir schwiegen. Louise schaute mich an und lächelte. Ich küßte sie.
    »Du liebst mich nicht, und ich liebe dich nicht. Es ist nichts dabei«, sagte sie lachend. »Hauptsache, wir amüsieren uns.«

24
    Ich dachte nicht an Agnes, während ich mit Louise zusammen war, und es ging mir gut. Als ich nach Hause kam, war es mir, als kehre ich in ein Gefängnis zurück. Ich ließ die Wohnungstür einen Spaltbreit offenstehen, aber als ich Stimmen im Hausflur hörte, schloß ich sie. Ich legte mich für eine halbe Stunde aufs Sofa, dann stand ich auf und ging in die Bibliothek und von da aus weiter an den See, in das Café am Ende des Grant Park.
    Ich dachte an das Kind, mit dem Agnes schwanger war. Ich fragte mich, ob es mir gleichen, ob es meinen Charakter haben würde. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie es sein würde, wenn irgendwo ein Kind von mir lebte. Selbst wenn ich Agnes nie wiedersähe, würde ich Vater sein. Ich werde mein Leben ändern, dachte ich, auch wenn ich dem Kind nie begegnen sollte. Und dann dachte ich, ich ertrage es nicht, dem Kind nie zu begegnen. Ich will wissen, wer es ist, wie es aussieht. Ich nahm mein Notizbuch hervor und versuchte, ein Gesicht zu zeichnen. Als es mir nicht gelang, begann ich zu schreiben:
Am vierten Mai kam unser Kind zur Welt. Es war ein Mädchen. Es war sehr klein und leicht und hatte ganz dünnes blondes Haar. Wir tauften es auf den Namen …
    Ich dachte lange nach, wie ich das Kind nennen sollte. Die Kellnerin brachte mir frischen Kaffee, und ich las auf ihrem Namensschild, daß sie Margaret hieß. Ich bedankte mich für den Kaffee und schrieb:
… Margaret. Die Wiege stellten wir in mein Arbeitszimmer. Jede Nacht weinte das Kind, jeden Tag gingen wir mit ihm spazieren. Vor den Spielwarengeschäften blieben wir stehen und überlegten uns, welche Dinge wir Margaret kaufen würden, später, wenn sie älter sein würde. Agnes sagte, sie wolle ihr nicht nur Puppen kaufen.
»Ich will, daß sie mit Autos spielt und mit Flugzeugen, mit Computern, Eisenbahnen.«
»Erst kriegt sie Plüschtiere, Puppen …«, sagte ich.
»Bauklötze«, sagte Agnes. »Als ich klein war, liebte ich Bauklötze mehr als alle Puppen. Margaret soll bekommen, was sie will.«
»Ich bringe ihr alles über Luxuseisenbahnwagen bei, wenn du willst«, sagte ich.
Wir schauten uns nach einer größeren Wohnung um, in einem Außenviertel, wo es Parks gab und Wälder. Wir überlegten uns, nach Kalifornien zu ziehen oder in die Schweiz. Mit meinem Buch kam ich gut voran, trotz der Arbeit, die das Kind uns machte. Es war der glücklichste Sommer meines Lebens, und auch Agnes war so zufrieden wie selten zuvor.
    Ich schrieb nicht weiter. Ich merkte, wie wenig ich über Babys wußte, und beschloß, mir ein Buch zu kaufen. Ich war jetzt sicher, daß Agnes und ich wieder zusammenkommen würden. Ich schrieb einen Brief an sie, steckte ihn in die Tasche und ging, so schnell ich konnte, nach Hause zurück.
    Schon als ich die Wohnungstür aufschloß, hörte ich das Telefon klingeln. Noch im Mantel nahm ich ab. Es war eine Kollegin von Agnes, eine der Geigerinnen aus dem Streichquartett.
    »Ich habe den ganzen Tag versucht, Sie zu erreichen«, sagte sie.
    »Ich war spazieren.«
    Sie zögerte. »Agnes ist krank«, sagte sie dann, »sie ist nicht einmal zur Probe gekommen.«
    »Was spielt ihr?« fragte ich, weshalb, weiß ich nicht.
    »Schubert«, sagte sie. Es war einen Moment lang still. »Agnes würde mich umbringen, wenn sie wüßte, daß ich Sie anrufe. Aber ich glaube, sie braucht Ihre Hilfe.«
    »Was fehlt ihr?« fragte ich, aber die Kollegin wollte nichts weiter sagen.
    »Gehen Sie doch bitte zu ihr«, sagte sie nur, »es geht ihr nicht gut.«
    Ich bedankte mich und versprach, Agnes zu besuchen. Den Brief, den ich ihr geschrieben hatte, zerriß ich. Ich holte mir ein Bier aus dem Kühlschrank und setzte mich ans Fenster.
    Wenn ich jetzt zu Agnes gehe, dachte ich, dann ist es für immer. Es ist schwer zu erklären, obwohl ich sie liebte, mit ihr glücklich gewesen war, hatte ich nur ohne sie das Gefühl, frei zu sein. Und Freiheit war mir immer wichtiger gewesen als Glück. Vielleicht war es das, was meine Freundinnen

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