Agnes: Roman (German Edition)
Männer standen und die Fenster putzten. Sie waren eben fertig, winkten und schwebten lachend in die Höhe. Ich hatte einen Zettel von der Hausverwaltung bekommen, der die Reinigung der Fenster angekündigt hatte, aber ich hatte vergessen, es Agnes zu sagen. Ich ließ die Rolläden herunter und ging zurück in den Flur. Im Badezimmer hörte ich Agnes leise wimmern. Ich klopfte. Schließlich öffnete sie die Tür.
»Sie haben mich angeschaut«, sagte sie, wischte sich mit Toilettenpapier die Tränen ab und putzte sich die Nase.
»Jetzt sind sie weg. Ich habe die Läden geschlossen.«
»Sie schauen uns an. Alle schauen uns an, wenn wir Kindersachen kaufen. Alle wissen es. Es ist eine Lüge.«
»Es ist doch nur eine Geschichte. Du wolltest …«
»Ich habe nicht gewußt …«, unterbrach mich Agnes, aber sie sprach nicht weiter.
»Du wolltest, daß ich sie so schreibe«, sagte ich, »wir haben sie zusammen geschrieben.«
»Ich habe nicht gewußt, wie wirklich es wird. Und doch ist es eine Lüge. Es ist krank.«
»Ich habe gehofft, es würde dir helfen. Es hat mir geholfen, als du nicht da warst.«
»Es stimmt nicht. Du mußt schreiben, wie es wirklich war und wie es ist. Es muß stimmen.«
»Ja«, sagte ich.
»Schreib, wie es weitergeht«, sagte Agnes. »Wir müssen wissen, was geschieht.«
»Gut. Ich werde schreiben, was wir machen, wohin wir gehen, welche Kleider du trägst. Wie vorher. Du wirst das dunkelblaue Kleid wieder tragen. Wenn es wärmer ist.«
»Ich ziehe es heute abend an.«
Noch an diesem Abend warf Agnes alle neu gekauften Sachen in den Müllschlucker im Flur. Ich wollte sie verschenken, aber Agnes bestand darauf, alles wegzuwerfen. Als der Teddybär nicht in das enge Loch paßte, riß sie ihm die Arme ab. Auch was wir am Nachmittag auf dem Computer geschrieben hatten, löschten wir. Dann zog Agnes das blaue Kleid an.
»Als Kind waren die Figuren der Bücher, die ich las, meine besten Freunde«, sagte sie, »meine einzigen Freunde eigentlich. Auch später noch. Nachdem ich Siddharta gelesen hatte, stellte ich mich eine Stunde lang barfuß in den Garten, um meine Gefühle abzutöten. Das einzige Gefühl, das ich abtötete, war das in meinen Füßen. Es lag Schnee.«
Agnes lachte zögernd. Ich hatte eine Tiefkühlpizza in den Ofen geschoben und öffnete eine Flasche Wein.
»Ich bin immer traurig, wenn ich ein Buch zu Ende gelesen habe«, sagte Agnes. »Es ist, als sei ich zu einer Person des Buches geworden. Und mit der Geschichte endet auch das Leben dieser Person. Aber manchmal bin ich auch froh. Dann ist das Ende wie die Befreiung aus einem bösen Traum, und ich fühle mich ganz leicht und frei, wie neugeboren. Ich frage mich manchmal, ob die Schriftsteller wissen, was sie tun, was sie mit uns anstellen.«
Ich küßte Agnes.
»Da bin ich mit dir zusammen und weiß gar nicht, daß in deinem Kopf das ganze Personal der Weltliteratur steckt.«
»Ich lese nicht mehr viel«, sagte Agnes, »vielleicht deshalb. Weil ich nicht mehr wollte, daß Bücher Gewalt über mich haben. Es ist wie ein Gift. Ich habe mir eingebildet, ich sei jetzt immun. Aber man wird nicht immun. Im Gegenteil.«
Dann aßen wir, und später nahm Agnes das Beruhigungsmittel, das der Arzt ihr nach der Operation verschrieben hatte. Ich setzte mich auf den Rand des Bettes, um zu warten, bis sie eingeschlafen war.
»Jetzt sind wir wieder zusammen«, sagte sie noch, bevor sie einschlief, »nur wir zwei.«
28
Langsam schien Agnes sich zu erholen. Aber es war, als habe sie sich von mir entfernt, als suche oder finde sie die Nähe zu mir nicht mehr. Wenn wir spazierengingen, lief sie gedankenverloren neben mir her, wenn ich ihre Hand nahm, machte sie sich bald wieder von mir los. Sie las viel in der Norton Anthology . Wenn ich nicht zu Hause war, spielte sie oft Cello. Ich konnte sie schon vom Flur aus hören, aber sobald ich die Tür öffnete, hörte sie auf zu spielen.
»Spielst du mir etwas vor?« fragte ich einmal.
Sie sagte nur: »Nein.«
Während sie das Cello im Kasten verstaute, blätterte ich in ihren Noten.
»Spielt ihr nicht Schubert?«
»Nicht mehr«, sagte Agnes und lächelte, »die anderen fanden, das sei im Moment nicht das richtige für mich. Jetzt spielen wir Mozart.«
»Ich mag Mozart nicht.«
»Ich auch nicht.«
Es war Advent. Zum erstenmal in diesem Jahr schneite es. Agnes hatte die Wohnung dekoriert, mit weißen Sternen, die sie aus Papierstreifen geflochten hatte. Ich hatte ihr eine Kassette
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