Agnes: Roman (German Edition)
vierzehnte Jahrhundert zurück. Wenn du so willst, hat meine Familie mütterlicherseits viel mehr Geschichte als die meines Vaters. Er stammt aus einfachen Verhältnissen. Hat gut geheiratet. Und meine Mutter bildet sich etwas auf ihren Europäer ein, im Grunde genau der selfmade man , für den die Europäer alle Amerikaner halten.« Sie lachte.
»Was hast du deinen Eltern erzählt?« fragte ich. »Sie behandeln mich wie ihren zukünftigen Schwiegersohn.«
»Oh, es ist nichts dabei. Sie würden mich nur gern unter der Haube sehen. Und sie sind froh, daß ich endlich einmal einen Freund habe, der einen anständigen Beruf hat. Ich habe ihnen gesagt, du bist Journalist und schreibst Bücher.«
»Deine Mutter hat mir erzählt, Hemingway sei hier geboren.«
»Ja, ich weiß. Sie liebt es, sich mit Künstlernamen zu schmücken.«
»Magst du Hemingway?«
»Ich weiß nicht«, sagte Louise. » A Farewell to Arms habe ich gemocht, aber ich glaube, das war wegen Gary Cooper und wegen der Musik.«
Nach dem Essen zeigte sie mir das Appartement, das ihre Eltern im oberen Stockwerk des Hauses für sie eingerichtet hatten. Dann fuhr sie mich durch das Viertel und zeigte mir, wo Frank Lloyd Wright gearbeitet hatte und wo Hemingway geboren war. Im Bookshop des Hemingway-Hauses kaufte ich A Farewell to Arms und schenkte es ihr.
»Du mußt es lesen«, sagte ich, »es ist besser als der Film.«
»Und du mußt endlich bei mir im Büro vorbeikommen, damit ich dir unser Archiv zeigen kann.«
23
Schon während meiner Vorarbeiten in der Schweiz war ich immer wieder auf den Namen George Mortimer Pullman gestoßen, aber erst in Chicago entdeckte ich, daß der legendäre Schlafwagenbauer nicht nur der Erfinder des Luxuseisenbahnwagens war, sondern mit seiner Musterstadt Pullman, südlich von Chicago, Industriegeschichte geschrieben hat. In der kleinen Stadt, die von der Wasser- und Gasversorgung bis zur Kirche fest in der Hand des Industriellen war und die er mehr als Vater denn als Besitzer kontrollierte und regierte, kam es bald zu Unruhen und vor hundert Jahren zu Streiks und gewalttätigen Ausschreitungen, die in die Geschichte der amerikanischen Arbeiterbewegung eingegangen sind. Schließlich griff die Armee ein, doch es war zu spät. Pullmans Traum war zerbrochen.
Das Scheitern von Pullmans Vision und das Aufbegehren seiner Arbeiter gegen die Kontrolle ihres gesamten Lebens durch ihren Arbeitgeber faszinierten mich mehr als die legendären Wagen der Firma. Mit allem hatte Pullman gerechnet, nur nicht mit dem Bedürfnis seiner Arbeiter nach Freiheit. Er hatte geglaubt, ihnen ein Paradies gebaut zu haben. Aber das Paradies hatte keine Tür, und als die Zeiten schwerer wurden und die Arbeitsplätze knapper, fühlten sich die Arbeiter immer mehr wie Gefangene. Pullman sah seinen Irrtum nie ein und haderte bis zu seinem Tod mit der Undankbarkeit der Menschen.
Vom Archiv der Pullman Leasing versprach ich mir nicht viel, aber ich wollte Louise wiedersehen, und so besuchte ich sie einige Tage später in ihrem Büro. Sie führte mich über das riesige Gelände der ehemaligen Waggonfabrik und zeigte mir die Konstruktionsanlagen, die kurz nach dem Krieg stillgelegt worden waren. Die Gebäude waren nie abgerissen worden, der Abbruch würde mehr gekostet haben, als der Verkauf des Grundstücks eingebracht hätte. In die Wände der Hallen waren Namen eingeritzt. Auf einen Pfeiler hatte jemand mit groben Pinselstrichen die Silhouette eines Frauenkörpers gemalt, später hatte jemand mit feinerem Strich ein Gesicht hinzugefügt.
»Pullman war eigentlich Kunsttischler. Aber sein erstes großes Geld verdiente er damit, daß er Häuser in sumpfigen Gebieten vor dem Absinken rettete. Frag mich nicht, wie er das gemacht hat.«
»Kannst du dir vorstellen, wie hier früher alles voller Arbeiter war, voller Lärm und Betrieb?«
»Heute gibt es nur noch Mäuse und Ratten«, sagte Louise. »Paß auf, es ist alles schrecklich schmutzig.«
Einmal nahm sie meine Hand, als wir über ein mit Gras überwuchertes, unebenes Gelände gingen.
»Komm, wir gehen ins Archiv«, sagte sie. »Ich kann nicht den ganzen Tag mit dir herumspazieren.«
Wie erwartet, war das Archiv nicht sehr ergiebig. Von der früheren Geschichte der Firma war fast nichts erhalten. Vieles habe man weggeworfen, sagte Louise, einiges der Bibliothek geschenkt.
»Über den Pullman-Streik hättest du hier sowieso nichts gefunden«, sagte sie. »Damals sprach man nicht gern darüber, und
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