Agrippina - Kaiserin von Rom
des wahren Gottes vernommen.« Liebevoll blickte sie Maternus an und streichelte über seine runzligen Hände.
Valerius holte tief Luft. »Nicht alles! Das Wichtigste hast du nicht erwähnt. Verzeih, aber euer seltsamer Glaube interessiert mich nicht. Und ob du nun wirklich tot warst oder, wie ich wohl eher vermute, dem Tode nur ähnlich – von solchen Dingen hat man schon gehört –, will ich nicht beurteilen. Aber die Morde! Die Morde, die hier geschehen sind und offenbar nur Menschen getroffen haben, die zu eurem kleinen Kreise gehören, die interessieren mich. Welchen Grund gibt es dafür? Was weißt du darüber? Sprich!«
»Tribun, darüber werde ich nie sprechen! Es ist jetzt mehr als ein Jahr her, dass unser kleiner Kreis durch Zufall oder Gottes Willen Kenntnis von einem schlimmen Geheimnis erhielt. Wir haben damals sofort gewusst, dass dieses Geheimnis für uns alle lebensbedrohlich ist. Dies umso mehr, wenn auch nur einer von uns es preisgibt. Und so haben wir uns damals im Haus des lieben verstorbenen Lucius Poblicius getroffen und zusammen einen heiligen Eid abgelegt, dass niemand von uns, zu keiner Zeit und an keinem Ort, darüber sprechen wird. Dieser Eid bindet meine Zunge, und nichts, keine Folter, hörst du, keine Folter, wie schlimm sie auch sein mag, wird diesen Eid lösen können. So, jetzt magst du die Folterknechte des Aedils herbeiholen, sie werden meine Zunge nicht lösen!«
Zornig schlug Valerius auf den Tisch. Wieder einmal stieß er auf eine undurchdringliche Mauer des Schweigens.
»Aber dieses Schweigen kostet euch das Leben!«, rief er, »zehn von euch haben schon bezahlen müssen. Wie viele sollen noch sterben, bis ihr redet?«
»Das liegt allein in der Hand des Herrn. Mögen auch schon zehn gestorben sein, so leben doch mindestens noch zehnmal so viele, und sie leben nur, solange wir schweigen. Such den Mörder,Tribun, und erlöse uns von dieser Qual. Aber erwarte von mir keine Hilfe. Mich bindet der Eid, den ich vor Gott und den Menschen geleistet habe.«
»Was bedeutet der Buchstabe, den die Toten auf der Stirn trugen?«
»Ich weiß es nicht, und wenn ich es wüsste, würde ich es dir nicht sagen, denn es wäre Teil des Geheimnisses. Doch ich rate dir: Sei auf der Hut und trau keinem! Wer sich heute dein Freund nennt, mag dir morgen den Dolch in den Rücken stoßen. Und nun entschuldige mich, ich habe noch einiges für die nächste Versammlung vorzubereiten.« So unauffällig, wie er hereingekommen war, verschwand Maternus wieder.
»Was soll man nun davon halten?« Ratlos blickte Valerius die Witwe an.
»Er hat dir nicht ganz die Wahrheit gesagt«, flüsterte Julia Spatiatica leise.
»Ich dachte es mir!«, rief Valerius erregt. »Sprich, was hat er mir verschwiegen?«
»Er ist schon zweimal gestorben, und zweimal hat der Herr ihn zum Leben erweckt.«
Valerius, der gerade etwas Honigwein zu sich genommen hatte, prustete los: »Zweimal? Bei den Göttern, glaubst du, ich wäre ein Narr, solche Geschichten zu glauben?«
Ruhig und ernst blickte die Hausherrin ihn an. Dann begann sie mit leiser Stimme zu erzählen: »Es trug sich vor etwa dreißig Jahren in der Provinz Judäa zu, in einer kleinen Stadt namens Nain, unweit der Geburtsstadt unseres Christus, Nazareth. Der einzige Knabe einer ehrwürdigen Witwe war im Alter von zwölf Jahren verstorben, und seine Mutter und die Freunde der Familie trugen den Jüngling zu Grabe. Da geschah es, dass unser Herr das Stadttor passierte und den Leichenzug erblickte. Als er die trauernde Witwe sah, wurde er von Mitleid gerührt. Er sprach zu der Mutter: ›Weine nicht.‹ Dann hieß er die Träger die Bahre absetzen und berührte den Leib des Verstorbenen mit den Worten: ›Jüngling, ich sage dir, stehe auf!‹ Und sogleich stand der Tote auf und begann zu sprechen. Alle Umstehenden aber waren von dem Wunder gerührt und priesen Gott.«
»Und dieser auferweckte Jüngling war Maternus«, lachte Valerius. »Bei Jupiter, was für eine unterhaltsame Geschichte. Bürgst du für sie? Woher nimmst du die Kühnheit, mir solche Märchen aufzutischen, du Närrin? Hast du vergessen, dass ich in amtlicher Mission hier bin? Ich könnte dich wegen Irreführung der Behörden festnehmen lassen!« Unwillig runzelte der Tribun die Stirn, der Ärger über die Frechheit der jungen Frau stand ihm im Gesicht geschrieben.
»Maternus selbst hat mir davon erzählt, auch wenn er in seiner Demut die Sache am liebsten verschweigt. Und der große Petrus, unser
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