Aina - Herzorgasmus
muss jetzt los.«
»Ich dachte, dass du vielleicht mit mir…«, Aina traute sich kaum zu fragen, obwohl Christin die Einzige war, die sie nicht für ihre Ideen belächelte.
Christin wusste, was sie zu sagen versuchte. Doch Aina erkannte an ihrem entschuldigenden Blick schon die Antwort. »Tut mir leid, Aina. Nicht ausgerechnet jetzt, wo jeder ein Stückvom Kuchen abhaben will.«
Aina nickte resignierend. Sie konnte es ihr nicht verdenken. Sie schwamm mit dem Strom. So, wie jeder hier. Und vermutlich würde es sie den Job kosten, wenn sie ausgerechnet jetzt nicht mit dem Strom schwamm und stattdessen mit Aina die Helden der Stadt suchte. Jetzt, wo jeder ein Stück von dem Katastrophenkuchen abhaben wollte.
»Schon gut«, sagte Aina. »Ein anderes Mal.«
Christin nickte, warf ihr noch einmal einen Blick zu, der so viel bedeutete, wie »Verzeih mir!« und stürmte dann aus der Redaktion.
Aina schob sich derweil zwischen den Menschen zu ihrem Schreibtisch vor, nahm ihren Mantel und verließ die Redaktion ebenfalls. Vor dem Gebäude standen unzählige Wagen, die nicht von hier waren. Das erkannte sie nicht nur an den Nummernschildern, sondern an ihrer Unversehrtheit. So gut wie jedes Auto der Stadt hatte einen erheblichen Schaden davongetragen. Es lagen immer noch Äste, Haushaltsgegenstände, Müll und Dachziegel in den Straßen. Manche Fenster waren zertrümmert und die Fassaden der Häuser beschädigt. Doch es war alles ruhig und friedlich. Es war ein unheimlicher Anblick.
Als Aina über die Straße ging und mit entsetzten Blicken die Häuser betrachtete, klingelte ihr Handy. Sie kramte es schnell aus ihrer Handtasche und ging ran.
»Ja, Paps?«
»Wie geht es dir? Alles in Ordnung?«, fragte er besorgt.
»Mhm«, machte Aina und betrachtete ein zerschlagenes Fenster, hinter dem eine Frau versuchte provisorisch eine Plastikplane zu befestigen. »Wie geht es Alva?«
»Es geht ihr wieder gut. Sie will nach Hause.«
»Sie soll lieber noch warten«, sagte Aina schnell. »Im Waldgab es wohl erhebliche Schäden. Vielleicht ist ihr Haus beschädigt. Ich frage Andi, ob jemand nachsehen kann.«
»Danke, Schatz. Pass auf dich auf.«
»Du ebenso. Bis dann.«
Sie legte auf und stieg in ihren Wagen ein. Bis auf ein paar Kratzer im gelben Lack war er unversehrt. Sie erklärte sich diese Tatsache damit, dass er offenbar in einem Winkel vor ihrem Haus gestanden hatte, der von dem Unwetter verschont worden war. Das rund um das Auto herum faustdicke Hagelkörner gelegen hatten, verdrängte sie in den Hinterkopf. Sie hatte sich schon lange damit abgefunden, dass sie sich manche Dinge in ihrem Leben einfach nicht erklären konnte. Also versuchte sie auch nicht weiter darüber nachzudenken.
Als erstes fuhr sie zur Feuerwehr. Dort wusste man ihre Bemühungen zu schätzen und erzählte ihr, was manche Feuerwehrleute geleistet hatten, um Menschenleben zu retten. Sie stattete auch der Polizei einen Besuch ab, doch dort war so viel los, dass niemand Zeit für ein Interview mit ihr hatte. Andi war nirgends zu sehen. Und auf dem Handy konnte sie ihn auch nicht erreichen. Also machte sie sich wieder auf den Weg und interviewte ein paar Nachbarn in ihrer Umgebung, die ihr erzählten, wie sie die Katastrophe überstanden hatten. Es waren Geschichten, die sie tief berührten. Ein jeder hatte in dem Moment der Katastrophe einen ausgeprägten Beschützerinstinkt entwickelt und versucht die Menschen, die er liebte, in Sicherheit zu bringen. Aina notierte sich zu jeder Geschichte auch die Emotionen, die bei den Menschen ans Tageslicht gekommen waren. Stärke, Mut, Nächstenliebe, Selbstsicherheit und manchmal auch Übermut und überschätzte Kraft. Doch jeder einzelne von ihnen berichtete auch von dem eisigen Gefühl und der panischen Angst vor etwas Unbekanntem. Von dem Fluchtinstinkt, der sie hatte erstarren oder weglaufen lassen. Sieberichteten von Erstickungsanfällen, Ohnmacht, Kreislaufproblemen und Panikattacken. Manche sagten, sie haben das Gefühl gehabt, als sei ihnen die Energie aus dem Leib gesaugt worden. Viele waren zusammengebrochen. Besonders ältere Menschen. Auf Ainas Frage hin, ob dies ihrer Meinung nach auf das Wetter zurückzuführen war, schüttelten ausnahmslos alle mit den Köpfen.
All diese Schilderungen erinnerten sie an ihre eigenen Gefühle an diesem Tag. Doch sie konnte sich keinen Reim darauf machen. Es war, wie so vieles in ihrem Leben, nicht erklärbar. Am Ende des Tages besuchte sie noch das Mädchen im
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