Aina - Herzorgasmus
dazu in der Lage etwas zu sagen.
»Und seine Haut… sah so unheimlich aus. So grau. Als sei ihm alles Lebendige aus dem Körper gesaugt worden… Weißt du noch, Aina?«, fragte Christin jetzt. »Wie wir uns gefühlt haben?«
Aina nickte mit offenem Mund und dachte nicht daran, dassChristin sie dabei nicht sehen konnte. Sie dachte an all die Menschen, die ihr heute von ihren eigenen Gefühlen bei dem Unwetter berichtet hatten.
»Genauso sah er aus. Genauso, wie wir uns an dem Tag gefühlt haben. Ich kriege das Bild nicht mehr aus meinem Kopf.«
Aina holte tief Luft. »Beruhige dich erst mal«, sagte sie mit zitternder Stimme und sprach dabei mehr mit sich selbst, als mit Christin. »Warst du bei der Polizei?«
»Ich habe sie angerufen. Sie waren ziemlich schnell da. Andi war nicht dabei«, antwortete sie auf Ainas nicht gestellte Frage.
»Und… konnten sie erkennen, woran er gestorben ist?«, fragte Aina vorsichtig.
»Ich weiß nicht. Sie haben mich gleich weg gebracht. Es sah aber nicht so aus, als sei er in dem Sturm umgekommen. Er hat in einer Ecke in seinem zertrümmerten Haus gekauert. Er hat sich an seinen Knien festgehalten. Er hat sich richtig daran festgekrallt, Aina.« Wieder fing sie an zu weinen. »Er hat einfach dagesessen und ist gestorben. Wie geht das, Aina? Wie kann das sein?«
Aina hielt fassungslos das Handy an ihr Ohr und setzte sich auf die Couch.
»Das Seltsame ist, dass es wohl mehreren Menschen so ergangen ist. Ich hab da was von den Polizisten aufgeschnappt. Es gibt mehrere Tote. Alle im Umkreis des Glühers. Und alle sind einfach so gestorben. Ohne irgendeinen Grund. Sie sind einfach tot umgefallen.«
Aina dachte sofort an ihren Vater. Er wohnte in unmittelbarer Nähe des Glühers. Doch ihm war glücklicherweise nichts geschehen. Sie überlegte, ob sie ihn besser doch noch einmal anrufen sollte, um sicherzugehen, dass es ihm wirklich gut ging.
»Irgendetwas ist da passiert«, flüsterte Christin nun unheilvoll. »Das kann doch nicht nur an dem Unwetter gelegenhaben, oder?«
»Ich weiß nicht«, flüsterte Aina zurück und blickte dabei aus dem Fenster in die Nacht. Es war kein Stern am Himmel zu sehen. Alles war schwarz. Schwarz wie die Augen des Mannes, den sie in dieser Nacht… Sie kniff die Augen zu und schüttelte den Kopf, als könne sie dadurch die Erinnerungen loswerden. Sie wollte diese Bilder nicht mehr sehen. Diese unheimlichen, schwarzen Augen und dieses gespenstische Gesicht. Sie lauschte verkrampft Christins Stimme und versuchte sich weiterhin auf ihre Worte zu konzentrieren. Doch sie hörte nur noch aus Höflichkeit zu. Nicht mehr aus Interesse. Die Bilder aus ihrem Kopf zu verdrängen kostete sie viel zu viel Konzentration.
Während sich Christin bei ihr ausweinte, lief Aina zu ihrer Handtasche und kramte hektisch ihre Tabletten heraus. Sie ärgerte sich, dass sie es immer noch nicht geschafft hatte, sich neue vom Arzt zu holen. Genervt presste sie eine der Tabletten aus der Packung und legte sie sich schnell auf die Zunge. Dann spülte sie sie mit einem großen Schluck kalten Kaffee hinunter, kniff die Augen zu und wartete. Sie wusste nicht, ob es an der Wirkung der Tablette lag oder an ihrer Einbildung, aber Christins Stimme wurde mit der Zeit immer entspannter. Ruhiger. Und gelassener. Irgendwann war es gar nicht mehr so schlimm, dass der Förster gestorben war und es war bei weitem nicht mehr so mysteriös, wie er gestorben war. Alles verlor seinen Schrecken und Aina verlor die Fähigkeit zu beurteilen. Die Welt um sie herum wurde schal, wie der Geschmack in ihrem Mund. Selbst ihre Stimme verlor ihren hohen Klang. Sie wurde träge und müde. Als Christin bemerkte, wie Aina nur noch hin und wieder antwortete und dabei elendig gelangweilt klang, verabschiedete sie sich schließlich und wünschte ihr eine gute Nacht. Trotz der Horrornachricht.
Aina ging sofort ins Bett. Sie ließ sich auf die Matratze fallenund schloss sofort fest die Augen. »Verschwinde«, hauchte sie. »Bitte.« Sie rollte sich zusammen und versuchte dem Drang zu widerstehen, die Bettdecke, die sich an ihren Körper schmiegte, den kühlen Windhauch, der durch das Fenster drang und sanft ihre heiße Wange streifte und das Geräusch des Windes, der durch ihre Gardine strich, ganz bewusst wahrzunehmen. Sie wollte nichts fühlen. Und sie wollte nichts hören. Nichts sehen. Sie hatte Angst davor. Fürchterliche Angst. Warum konnte sie ihre Gefühle nicht einfach abschalten und wie ein Zombie
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