Aina - Herzorgasmus
es war. Sie konnte es nicht in Worte fassen, das Gefühl, das ihren Blick in weite Ferne zog und ihre Gedanken verstummen ließ. Es war ein Gefühl so weit wie die Unendlichkeit. So unsichtbar wie Luft und doch so stark und mächtig, wie ein Energiekraftwerk. Es summte und pulsierte in ihr. Unaufhörlich. Stetig. Und wenn sie auf sein markdurchdringendes Flüstern hörte, rief es sie,… zu sich in die Unendlichkeit. In seine Arme, zu den Sternen. In ein seidenes Kleid, gewebt aus Fantasie. Auf die Schwingen der Träume. Erneut hauchte ihr die Sehnsucht, die sie nicht benennen konnte, eine Liebeserklärung in ihr Herz und streichelte ihre Seele. Hob sie empor auf Armen so groß wie Gebirge und ebenso stark. Es umhüllte sie. Sanft wie ein Schleier aus Nebel, geheimnisvoll und doch so klar. Sie war gefangen. In einem Bann geboren, den sie nicht begriff. Nie hielt er sie fest und doch gehörte sie mit Leib und Seele ihm. Diesem Gefühl. Dieser Sehnsucht nach etwas Unbekanntem.
Eine Träne rollte ihr langsam über die Wange und benetzte ihre Lippen und ein schweres Seufzen hallte durch den Raum. »Dummkopf!«, sagte sie leise zu sich selbst und griff nach den Tabletten, die auf ihrem Nachtschrank lagen. Das Wasserglas glänzte im Mondlicht und sah fast zu schön aus neben den Tabletten, die sie so sehr hasste. Aber sie würden ihr Gemütberuhigen und ihre Sehnsucht verstummen lassen. Sie legte sich die Tablette auf die Zunge, spürte in einem kurzen Moment der Entzückung ihre glatte Oberfläche und war erneut erstaunt darüber, dass sie in der Lage war, sie zu fühlen, und dann schluckte sie sie mit einem großen Schluck des vom Mondlicht liebkosten Wassers hinunter. Gleich würde das Taubheitsgefühl ihre Sehnsucht verdecken, die jede Faser ihres Seins durchdrang und die seltsamen Gedanken verstummen lassen. Gedanken, die sie nicht verstand. Die Faszination darüber, dass sie fühlen konnte, sehen und hören. Das war verrückt. Und dieser Drang… Der Drang nach irgendetwas zu suchen. Etwas, das in ihr kochte, wie ein Vulkan, der kurz davor war, auszubrechen. Sie hatte Angst davor, denn sie spürte, sie würde die Kontrolle verlieren, wenn dies geschah. So war es besser.
»Gute Nacht!«, sagte sie. Zu wem wusste sie nicht. Zum Mond vielleicht. Oder zu dem blauen Licht, das immer noch so vertraut und beruhigend in ihr Zimmer leuchtete.
Und dann zog die künstliche Müdigkeit sie hinab in einen tiefen Schlaf, von dem sie am nächsten Morgen nie mehr wusste, als einen Bruchteil. Den Teil mit dem Licht. Dem hellblauen Licht…
AR
1
Ausbruch
»Du… hast ihn getötet?!« Die Worte der Fremden kamen nur mit einem Hauchen aus ihrer Kehle. Zitternd und mit einem erschreckenden, ahnungsvollen Klang in dem stimmlosen Lufthauch.
Aina starrte mit aufgerissenen Augen auf den Boden. Er lag auf der Seite. Seine Augen blickten erschrocken ins Nichts und das Blut, das aus der klaffenden Wunde an seinem Hals quoll, färbte den Schnee dunkelrot. Aina betrachtete ihre Hände und vergaß zu atmen. Das Schlüsselbund lag harmlos in ihrer Hand und die einzelnen blutverschmierten Schlüssel ragten noch zwischen ihren Fingern hervor und wirkten wie kleine, tödliche Messer. Was hatte sie getan? Sie war doch nicht einmal dazu in der Lage, eine Ameise zu zertrampeln. Das war nicht möglich! Es war einfach nicht möglich. Es musste ein Albtraum sein. Sie träumte! Schnell kniff sie die Augen zu und holte tief Luft. Es roch nach Schnee und Eis. Und nach Leder, einem billigen Aftershave und Zigarillos. »Wach auf, Aina«, flüsterte sie zitternd. »Wach auf. Das ist nicht real. Nicht real.« Sie war keine Mörderin! Sie war ein guter Mensch. Viel zu gut. Eine von denen, die die Welt retten wollten und von allen dafür belächeltwurden. Ein friedliches Wesen, voller Mitgefühl und Liebe. Sie war viel zu nett, um einem Menschen je Schaden zufügen zu können. Selbst einem Menschen wie diesem. Ihr würden eher die Hände abfaulen, bevor sie…
Sie nahm noch einen tiefen Atemzug und öffnete die Augen. Da lag er. Tot. Sie hatte ihn ermordet. So eiskalt und schnell, dass sie es nicht einmal mitbekommen hatte. Der Schrecken zog ihr bis in die Glieder und die Schuldgefühle drückten auf ihren Brustkorb wie eine tonnenschwere Last. Sie war eine Mörderin. Eine eiskalte Mörderin. Die Abscheu, die sie für sich empfand, drehte ihr den Magen um. Was hatte sie nur getan?
Ihr Blick hob sich langsam zu der fremden Frau hinauf, deren Augen panisch
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