Aina - Herzorgasmus
das bleiche Gesicht des Mannes fixierten. Es schien, als sei sie sich nicht sicher und erwarte jeden Moment ein Augenzwinkern oder ein Zucken seiner Muskeln. Langsam und schleichend, doch ohne den Blick von ihm abzuwenden, bewegte sie sich auf Aina zu und zuckte jedes Mal zusammen, wenn der Schnee unter ihren Füßen knirschte. Sie hatte Angst vor ihm. Panische Angst. Obwohl er tot war. Als sie Aina erreichte, nahm sie ihre Hand und zog sie von ihm weg.
»Wir müssen verschwinden«, hauchte sie. »Schnell.«
Aina versuchte ihre Gedanken zu ordnen, doch ihr Kopf fühlte sich an wie ein Vakuum. Ihr Glieder waren taub. Ob von der Kälte oder von dem Schock war ihr nicht klar. Das einzige Vernünftige, das ihr in diesem Moment einfiel, war: »Polizei. Wir müssen die Polizei…«
»Nein!«, unterbrach die Frau sie flüsternd. »Wir müssen weg. Sofort!« Sie zog an Ainas Arm und zerrte sie so kräftig zu ihrem Auto, dass sie fast auf dem Schnee ausrutschte.
Doch dann kam ihr ein weiterer Gedanke in den Sinn. Ein Gedanke, der ihren Schuldgefühlen ein wenig den Schmerz nahm. »Notwehr«, sagte sie wie in Trance. »Es war Notwehr! Erwollte…«
»Pscht!«, machte die Frau und schubste Aina zur Fahrertür. »Das ist egal. Wir müssen sofort verschwinden!«
Aina wusste kaum wie ihr geschah. Es ging alles zu schnell für ihren Verstand. Als sie die Tür öffnete, lief die Frau um den Wagen herum und stieg schnell ein. Erst im Auto fiel Aina auf, dass die Kleider der Fremden völlig zerfetzt waren und ihre Haut unter den Rissen aufgeschnitten und blutig war. Sie sah aus, als sei sie von einem Tier angegriffen worden.
»Du musst in ein Krankenhaus!«, sagte sie und deutete mit einem zitternden Finger auf die Wunden.
Plötzlich presste die Frau kreischend ihren Körper in den Sitz, riss den Kopf zur Seite und schrie: »FAHR!«
Aina blickte durch die Windschutzscheibe und erschrak so sehr, dass sie ebenfalls aufschrie. Der Mann hatte sich zu seiner vollen Größe aufgerichtet und stand nun im Schnee wie ein Todesengel. Sein schwarzer Ledermantel wehte im eiskalten Wind, als würde er nach ihnen greifen wollen. Eine dunkle, bedrohliche Gestalt, die im spärlichen Licht der weit entfernten Parklaternen wirkte, wie ein diffuser Schatten.
»Fahr! Fahr! Fahr!«, schrie die Frau panisch. »Fahr!«
Aina startete mit zitternden Händen den Wagen und legte den Rückwärtsgang ein, doch als die Scheinwerfer den Mann erfassten, erstarrte sie. Er sah sie an. Mit einem Ausdruck in seinem Gesicht so kalt und schneidend, wie diese Nacht es war. Seine dunklen Augen fesselten ihren Blick an sich und ließen sie nicht mehr los. Es war ihr unmöglich wegzusehen. Und sie konnte sich nicht bewegen. Wie ein verängstigtes Reh, erstarrt vor Angst, blickte sie ihm entgegen. Kein Gedanke wagte sich in ihrem Kopf hervor. In ihr war es still. Und leer. Die Frau schrie sie immer wieder an, doch sie hörte sie kaum. Irgendetwas war in seinen Augen, das nach ihr griff und sie festhielt. Etwas, dasalles um sie herum in den Hintergrund verdrängte und in der Dunkelheit ertrinken ließ.
»Nicht in die Augen sehen!!«, schrie die Frau.
Plötzlich spürte Aina eine kalte Hand auf ihrem Gesicht, die ihr die Sicht versperrte und ein Bein, das sich neben ihres schob. Dann trat die Frau auf ihren Fuß, der auf dem Gaspedal ruhte. Der Ruck, mit dem der Wagen nun in Bewegung kam, schmiss sie beide nach vorn. Aina schlug mit dem Kopf gegen das Lenkrad und kam wieder zur Besinnung.
»Nicht in die Augen sehen!«, schrie die Frau noch einmal.
Aina tat, was sie sagte. Sie sah in den Rückspiegel und suchte die Straße.
»Schneller! Er kommt!«
Der Wagen holperte über Schnee und Eisklumpen und schien vor Angst ebenso zu beben, wie sie. Als sie endlich die Straße erreichte, rutschte er wie auf einer Eisfläche über den Asphalt. Aina verlor beinahe die Kontrolle über ihn, schaffte es aber gerade noch ihn auf die Spur zu bringen und bretterte schließlich wie vom Teufel gejagt los. Ihr Herz schlug so schnell, dass sie es in ihrem ganzen Körper hämmern spürte.
»Mein Gott«, flüsterte sie atemlos und sah immer wieder in den Rückspiegel, »ich dachte, ich hätte ihn getötet!«
Die fremde Frau drehte sich alle paar Sekunden auf dem Sitz um und suchte die Straße ab. »Nein«, sagte sie ebenso atemlos.
In dem kurzen Moment, der verstrich, bevor die Frau weitersprach, spielte sich eine Erinnerung in Ainas Kopf ab. Urplötzlich, ganz so, als würde ihr
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