Aina - Herzorgasmus
Verstand nach etwas Normalem und Gewöhnlichem suchen wollen. Etwas, das ihr die Realität vor Augen hielt, um zu verhindern, dass sie den Bezug zur Wirklichkeit verlor. Denn, was sie gerade gesehen hatte, passte einfach nicht in das Bild ihrer normalen Welt.
Sie sah ihr Gesicht erneut im Spiegel, als würde sich die Szenedes heutigen Morgens noch einmal ereignen. So weiche, liebe Züge, eingerahmt von goldenem Haar. So ein harmloses Gesicht, dachte sie, als seine Stimme liebevoll durch das Telefon an ihr Ohr drang.
»Gib es auf, Aina.« Er klang fürsorglich. Wie ein Freund. Doch seine Worte machten sie rasend vor Wut. Immer noch. Oder… schon wieder. »Keiner will etwas über gute Menschen lesen, die Katzen von Bäumen retten oder Obdachlosen eine Suppe spendieren. Glaub mir. Die Leute wollen Horrornachrichten lesen, Skandale, Mord und Totschlag. So ist die Welt eben. Du wirst nie von einem großen Blatt engagiert werden, wenn du nicht mit dem Strom schwimmst.«
Er hätte vermutlich andere Worte gewählt, wenn er noch irgendwo die Hoffnung gesehen hätte bei ihr landen zu können. Aber da sie ihn schon gefühlte hundert Mal abgewiesen hatte, gab es keinen Grund mehr für ihn, sie mit blumigen Worten zu bezirzen. Stattdessen sprach er gerade heraus, was er dachte.
»Mit dem Strom schwimmen…«, wiederholte Aina seine Worte fast ein wenig spöttisch. »Hast du schon mal gesehen, wie jemand, der mit dem Strom schwimmt auf dieser Welt etwas verändert hat?« Sie legte die Absage wieder auf die Kommode, die sie heute von einem der größten Nachrichtenblätter erhalten hatte, schaltete den Lautsprecher des Telefons ein und lehnte den Hörer gegen den Spiegel.
»Du kannst diese Welt nicht ändern, Aina. Du wirst daran zerbrechen, wenn du so weitermachst.«
Aina sah sich in die smaragdgrünen, traurigen Augen und seufzte. Sie sah müde aus. Erschöpft von ihrem unablässigen Versuch, die Welt in der sie lebte ein wenig besser zu machen. Ihr immerwährendes Lächeln hatte sich nach all den Jahren des Kampfes aus ihrem Gesicht verflüchtigt. Doch die Menschen sahen immer noch die Gutmütigkeit und das engelsgleicheLeuchten in ihr, auch wenn sie nicht mehr so oft lächelte. Sie liebte das Gefühl, das sich in ihr ausbreitete, wenn sie Menschen glücklich machte. Es erfüllte sie so sehr, dass sie einfach nicht damit aufhören konnte. Selbst, wenn sie daran zerbrach. Und sie würde auch nicht aufhören. Sie musste es einfach tun. Sie musste den Menschen helfen. Es war ihre Lebensaufgabe. Schon als sie noch zur Schule gegangen war. Sie konnte einfach nicht anders.
»Was willst du machen, Andi?«, fragte sie ihn und sah auf einmal wieder ein wild entschlossenes Funkeln in ihren Augen. »Mich einsperren?«
Er seufzte. »Wenn ich könnte…«, sagte er leise. »Manchmal müssen Menschen vor sich selbst beschützt werden.«
»Und manchmal machen sich Menschen auch unnötig Sorgen«, konterte sie. »Zum Glück gibt es noch kein Gesetz, das mir verbietet ich selbst zu sein, also kannst du mich weder mit deinen Worten noch mit deinem Polizeiausweis aufhalten.«
»Nein«, sagte er leise und seufzte. Die Stille, die daraufhin folgte, war fast ohrenbetäubend. Sie wusste, wie er über ihren aufopfernden Drang diese Welt zu retten dachte. Sie konnte seine aufgebrachten, besorgten Worte fast hören. Doch er ließ keinen Ton verlauten. Vielleicht hatte er es endlich aufgegeben. Denn so liebevoll, fürsorglich und selbstlos wie Aina war, so starrköpfig konnte sie auch sein. Und das war ihm nach all der Zeit mehr als bewusst.
»Pass einfach auf dich auf, Aina. Es sind immer die guten Menschen, die an dieser Welt zerbrechen.« Dann legte er auf.
Aina sah das Telefon an. Lange. Doch seine Worte schafften es nicht sie von ihrem Plan abzubringen. Obwohl sie ihr ein wenig Angst gemacht hatten. Sie klangen in ihrem Kopf wider, bis die Stimme der fremden, verletzten Frau, die neben ihr im Wagen saß, wieder zu ihr durchdrang.
»Er kann nicht sterben«, sprach sie.
Es dauerte einen Moment, bis Aina wieder zurück zur Gegenwart gefunden hatte. Sie wandte sich zu ihr um und sah sie fragend an. Es sind immer die guten Menschen, die an dieser Welt zerbrechen, hörte sie immer noch seine Stimme. Machte es sie zu einem guten Menschen, dass sie diese Frau gerettet hatte? Oder machte es sie zu einem schlechten, weil sie wie eine wahnsinnige auf diesen Mann eingestochen hatte? Sie war doch immer ein guter Mensch gewesen. Wie hatte sie zu
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