Akte Atlantis
holten sie die Segel aus dem Frachtraum und zogen sie auf. Sobald sie angebrasst waren, wurde der Anker gelichtet, worauf sich die
Paloverde
, von Mender persönlich gesteuert, vorsichtig zwischen schmelzenden Schollen und mächtigen Eisbergen hindurch in offenes Fahrwasser tastete.
Nachdem sie sechs Monate lang in eisiger Kälte ausgeharrt hatten, stets vom Hungertod bedroht, nahmen sie nun Kurs auf die Heimat.
Aber erst, nachdem sämtliche Fässer an Bord mit Walrosstran gefüllt waren.
Der aus Obsidian gemeißelte Schädel, den Roxanna aus der im ewigen Eis gefrorenen
Madras
mitgenommen hatte, fand einen Ehrenplatz auf ihrem Kaminsims in San Francisco.
Mender setzte sich, wie es sich gehörte, mit den derzeitigen Eigentümern der Skylar Croft Trade Company in Liverpool in Verbindung, die mittlerweile einen anderen Namen trug, ließ ihnen das Tagebuch zukommen und nannte ihnen die Position des Schiffes, das an der Küste des Bellingshausen-Meeres gestrandet war.
Das ewige Eis wahrte sein finsteres Geheimnis. Die beiden Schiffe, die 1862 von Liverpool aus in See stachen, um die Fracht der
Madras
zu bergen, verschwanden auf Nimmerwiedersehen, vermutlich verschollen im Packeis der Antarktis.
Über hundertvierzig Jahre sollten vergehen, bis wieder jemand den Fuß an Deck der
Madras
setzte.
ERSTER TEIL
Im tiefsten Schoß der Hölle
1
22. März 2001
Pandora, Colorado
Die Sterne verblassten allmählich, aber in dieser Höhe, rund zweitausendsiebenhundert Meter über dem Meeresspiegel, funkelten sie noch immer wie eine Leuchtreklame am frühmorgendlichen Himmel. Doch der Mond hatte etwas Gespenstisches an sich, als Luis Marquez aus seinem kleinen Holzhaus trat. Er hatte einen eigenartigen orangefarbenen Hof, wie er ihn noch nie zuvor gesehen hatte. Er betrachtete die seltsame Erscheinung einen Moment lang, ehe er über den Hof zu seinem Pickup ging, einem 1973er Chevrolet Cheyenne mit Allradantrieb.
Er hatte seine Arbeitskleidung angezogen und sich leise aus dem Haus gestohlen, damit er seine Frau und die beiden Töchter nicht aufweckte.
Lisa, seine Frau, wäre gern aufgestanden und hätte ihm das Frühstück zubereitet und ein paar Brote zum Mitnehmen geschmiert, doch er bestand darauf, dass sie liegen bleiben sollte, weil früh um vier, wenn es draußen noch stockdunkel war, kein normaler Mensch freiwillig auf den Beinen war.
Marquez und seine Familie führten ein einfaches Leben.
Eigenhändig hatte er das 1882 gebaute Haus renoviert. Seine Kinder gingen im nahe gelegenen Telluride zur Schule, einem beliebten Wintersportort, in dem Lisa und er auch den Großteil ihrer Einkäufe erledigten. Alles Übrige besorgten sie sich einmal im Monat in Montrose, einer etwas größeren, aber dennoch ländlichen Stadt, die rund hundert Kilometer weiter nördlich lag.
Aus alter Gewohnheit gönnte er sich noch einen Schluck Kaffee und ließ den Blick einmal rundum schweifen, über die Ruinen der Geisterstadt.
Im Schein dieses gespenstischen Mondes ragten die wenigen Gebäude, die stehen geblieben waren, wie Grabsteine auf.
Nachdem man 1874 Goldadern im Felsgestein entdeckt hatte, waren zahllose Bergleute ins San Miguel Valley geströmt und hatten eine Stadt namens Pandora gegründet, benannt nach einer schönen Jungfrau aus der griechischen Sagenwelt, die einst den Deckel eines geheimnisvollen Gefäßes gelupft hatte. Ein Bostoner Bankenkonsortium erwarb die Schürfrechte, finanzierte die Erschließung der Mine und errichtete nur zwei Meilen nördlich der weitaus bekannteren Bergbaustadt Telluride ein Hüttenwerk.
Die Mine taufte man auf den Namen Paradise, und binnen kurzer Zeit wurde Pandora zu einem kleinen Städtchen mit zweihundert Einwohnern und einem eigenen Postamt. Die Häuser waren ordentlich gestrichen und von gepflegten Gärten und weißen Zäunen umgeben. Pandora lag zwar in einem Canyon, der nur von einer Seite aus zugänglich war, dennoch war die Stadt keineswegs von der Außenwelt abgeschnitten.
Die Straße nach Telluride war in gutem Zustand, außerdem führte ein einspuriger Schienenstrang der Rio Grande Southern Railroad in das Tal, über den Fahrgäste und Versorgungsgüter in die Stadt gebracht und das gewonnene Edelmetall nach Denver abtransportiert wurde, auf die andere Seite der Rocky Mountains.
Schon damals war manch einer davon überzeugt, dass die Mine verflucht sei. Allzu viele Menschen hatten in den vierzig Jahren, in denen hier Gold im Wert von etwa fünfzig Millionen Dollar gewonnen
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