Akte X
dichtstehenden Bäume griffen nach ihm. Ihre Zweige zerkratzten ihm das Gesicht, rissen an seinen Haaren, zerrten an seinem Hemd - aber Jody rannte weiter. Das letzte, was er hörte, war der verzweifelte Schrei seiner Mutter: »Jody, lauf! Lauf weg!«
In den letzten beiden Wochen hatte Patrice ihm ihre Angst und Paranoia eingehämmert. Jody wußte sehr gut, daß Leute hinter ihnen her waren, mächtige und mörderische Leute. Irgend jemand hatte seinen Vater verraten, die Laboratorien niedergebrannt.
Seine Mutter und er waren mitten in der Nacht geflohen, hatten in ihrem abseits der Straße geparkten Auto geschlafen, waren von Ort zu Ort gezogen, bis sie schließlich das Blockhaus erreicht hatten. Immer wieder hatte ihm seine Mutter eingeschärft, daß sie niemandem trauen konnten - und jetzt schien es, als hätte sie damit sogar Jeremy Dorman gemeint. Jeremy, der wie ein Onkel für ihn gewesen war, der mit ihm gespielt hatte, wenn er und sein Vater sich von ihrer Arbeit losreißen konnten.
Jetzt dachte Jody nicht; er reagierte nur. Er stürzte aus der Hintertür und rannte über die Wiese zu den Bäumen. Vader sprang vor ihm am Waldrand hin und her und bellte, als würde er einen sicheren Weg auskundschaften.
Das Blockhaus lag bald weit hinter ihnen, und Jody bog abrupt nach links und lief einen Hang hinauf. Er sprang über einen umgestürzten Baum, trat auf morsche Äste und brach durch dichtes, dorniges Gestrüpp. Ranken griffen nach seinen Füßen, aber Jody stolperte weiter.
Er hatte diese Wälder in den vergangenen Wochen erforscht. Seine Mutter hatte ihn ständig im Auge behalten, damit ihm nichts passierte und er sich nicht zu weit vom Haus entfernte, aber Jody hatte trotzdem hin und wieder Zeit gefunden, allein durch den Wald zu streifen. Er kannte den Weg. Er kannte ein paar abgeschiedene Stellen in der Wildnis, aber ihm fiel kein Versteck ein, daß unter diesen Umständen wirklich sicher war. Seine Mutter hatte ihm gesagt, er sollte laufen, und er durfte sie nicht enttäuschen.
Wenn ich sie hinhalten kann, hast du einen kleinen Vorsprung, hatte sie gesagt. Wenn sie mich töten, werden sie dich erst recht töten.
»Jody, warte!« Es war Jeremy Dormans Stimme, aber sie hatte einen seltsamen gurgelnden Unterton. »He, Jody, alles in Ordnung. Ich werde dir nicht wehtun.«
Jody zögerte kurz und rannte dann weiter. Vader bellte laut, schoß unter einem weiteren umgestürzten Baum hindurch und sprang dann einen felsigen Hang hinauf. Jody kletterte hinterher.
»Komm her, Junge. Ich muß mit dir reden«, rief Dorman. Der ferne Klang seiner Stimme verriet Jody, daß der Mann erst jetzt den Waldrand erreicht hatte.
Er blieb einen Moment keuchend stehen. In seinen Gelenken spürte er noch immer manchmal dieses seltsame Kribbeln, als wären Teile seines Körpers eingeschlafen - aber diese leichte Unannehmlichkeit war nichts im Vergleich zu dem, was er vorher durchgemacht hatte, auf dem Höhepunkt der Leukämie, als er sich verzweifelt gewünscht hatte, endlich zu sterben, nur damit dieser schreckliche Schmerz in seinen Gliedern aufhörte. Jetzt fühlte sich Jody gesund genug, um noch stundenlang weiterzulaufen - auch wenn er sich nach einem Platz zum Ausruhen sehnte. Gänsehaut überzog seine Arme, und Schweiß rann ihm über den Nacken und Rücken.
Er hörte Dorman durch das Unterholz stampfen, hörte Zweige brechen. Es klang erschreckend nah. Wie konnte der Mann nur so schnell sein? »Deine Mutter will dich sehen. Sie wartet hinten am Blockhaus.«
Jody rutschte einen Hang hinunter in eine schmale Schlucht, wo ein breiter Bach über Felsen und heruntergefallene Äste plätscherte. Vor zwei Tagen war er spielerisch von einem Stein zu einem Baumstumpf und dann auf einen Felsvorsprung gehüpft und hatte so den Bach überquert, ohne ins Wasser zu fallen. Jetzt rannte der Junge so schnell wie er konnte. Auf halbem Weg rutschte er auf einem moosbewachsenen Felsen aus und trat mit dem rechten Fuß in das eisige Wasser am Bachufer.
Er keuchte vor Überraschung, zog seinen tropfenden Fuß aus dem Wasser und sprang weiter. Seine Mutter hatte ihn immer ermahnt, aufzupassen, daß seine Schuhe nicht naß wurden... aber Jody wußte, daß es jetzt nichts Wichtigeres gab, als dem Verfolger zu entkommen, und daß er dafür alles riskieren mußte.
Dorman rief wieder. »Jody, komm her.« Er schien allmählich wütend zu werden, seine Worte klangen schärfer. »Ich brauche etwas von dir. Nur du kannst mir helfen. He, Jody,
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