Akte X
mit dem Gesicht nach unten im hohen Gras lag. Scully machte kehrt, stürzte die Treppe hinunter und blieb abrupt stehen, als sie erkannte, daß es sich um Patrice Kennessy handeln mußte; das rotblonde Haar und das schmale Gesicht sprachen dafür aber damit hörte die Ähnlichkeit auch schon auf.
Scully dachte an das Foto der lächelnden Frau, das sie sich so oft angesehen hatte: ihr Mann ein bekannter und begabter Forscher, ihr Sohn lachend und glücklich - bis er an Leukämie erkrankt war.
Aber Patrice Kennessy war nicht mehr die lebhafte, tatkräftige Frau, die ihren Sohn beschützt hatte. Sie lag jetzt zusammengekrümmt im Gras, den Kopf verdreht, das Gesicht im Tode zu einer grimmigen, verzweifelten Maske erstarrt. Ihre Haut war von zahllosen Blutergüssen gefleckt und von Geschwülsten aller Formen und Größen bedeckt. Ihre Augen waren geschlossen, und Scully entdeckte winzige Blutstropfen zwischen den Lidern. Ihre Hände waren wie Klauen ausgestreckt, als hätte sie sich mit aller Kraft gegen einen grausigen Gegner verteidigt.
Scully stand wie gelähmt da. Sie war zu spät gekommen.
Als Ärztin wußte sie, daß sie die wahrscheinlich hochinfektiöse Leiche nicht berühren, sich nicht einmal in ihre Nähe wagen durfte. Patrice war bereits tot. Jetzt blieb nur noch eins zu tun - sie mußte Jody finden und ihn in Sicherheit bringen. Vorausgesetzt, ihm war noch nichts zugestoßen.
Sie hörte den Wind in den hohen Kiefern rauschen, hörte das Flüstern und Wispern der aneinanderreihenden Nadeln. Die dichten Wolken am Himmel waren regenschwer. Das Zwitschern einiger Vögel mischte sich in die anderen Laute des Waldes, aber ansonsten war es bedrückend still an diesem einsamen Ort.
Dann hörte sie aus dem Wald das aufgeregte Gebell eines Hundes dringen - und einen Moment später den lauten Knall eines Schusses.
»Komm sofort her, verdammt!« rief eine ferne, barsche, drohende Stimme. »Jody, komm her.«
Scully zog jetzt ihre Pistole und näherte sich dem Wald, folgte dem Klang der Stimme. Jody war noch immer hier und rannte um sein Leben - und ein Mann, der die Seuche in sich tragen mußte, der Mann, der Patrice Kennessy angesteckt hatte, war jetzt hinter dem Jungen her.
Scully mußte ihn zuerst erreichen. Sie rannte in den Wald.
30 Blockhaus der Kennessys, Küstenregion, Oregon Freitag, 13:59 Uhr
Der Junge rannte und rannte, aber Dorman blieb ihm auf den Fersen. Die einzige Zuflucht, die Jody einfiel, war das Blockhaus, endlos weit entfernt auf der anderen Seite des Waldes. Das kleine Haus versprach nicht viel Sicherheit, aber wohin sollte er sich sonst wenden? Wenigstens konnte er hoffen, dort eine Waffe zu finden, irgend etwas, mit dem er sich wehren konnte.
Seine Mutter war einfallsreich, und Jody konnte es auch sein. Er hatte in den vergangenen Wochen eine Menge von ihr gelernt.
Jody lief in einem langen, weiten Bogen durch den Wald und näherte sich der Lichtung von hinten. Vader kläffte weiter zwischen den Bäumen, rannte manchmal an Jodys Seite, um dann wieder davonzuspringen, als wollte erjagen oder spielen. Jody fragte sich, ob der schwarze Labrador das alles tatsächlich nur für ein Spiel hielt.
Er stolperte weiter, obwohl seine Beine jetzt schmerzten, als hätte man ihm spitze Nägel in die Knie geschlagen. Die Seitenstiche waren schier unerträglich geworden. Peitschende Zweige und spitze Kiefernnadeln hatten ihm das Gesicht zerkratzt, aber er schenkte den Kratzern keine Beachtung; sie würden schnell verheilen. Seine Kehle war wie ausgetrocknet, und er bekam kaum noch genug Luft...
So leise wie möglich stolperte er weiter durch die Wildnis, in der es keine Wege gab, keine Orientierungsmöglichkeit, aber er hatte in den letzten Wochen so oft im Wald gespielt, daß er sich auskannte und wußte, wo das Blockhaus lag. Vader würde ihm folgen. Gemeinsam würden sie es schaffen und mit heiler Haut davonkommen.
Von der Anhöhe aus konnte Jody das kleine Haus und die Wiese bereits erkennen. Er war weiter gelaufen, als er gedacht hatte. Als er genauer hinsah, entdeckte er auf der Zufahrt ein anderes Auto. Ein fremdes Auto.
Kalte Furcht ergriff ihn. Noch jemand hatte sie aufgespürt! Einer von diesen anderen Leuten, vor denen ihn seine Mutter gewarnt hatte. Selbst wenn es ihm gelang, Jeremy Dorman abzuhängen und sich im Blockhaus zu verstecken - würden dort die anderen nicht schon auf ihn warten?
Aber im Moment stellte Dorman die größere Gefahr dar.
Dorman folgte ihm noch immer,
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