Akte X
pflügte wie eine Ramme durch die Bäume und das Unterholz und kam immer näher. Jody konnte nicht fassen, wie schnell der breitschultrige Mann rennen konnte, denn selbst seinen ungeschulten Augen war aufgefallen, daß der Laborassistent nicht besonders gesund aussah.
»Jody, warte! Wenn du mich nur eine Sekunde mit dir reden läßt, dann werde ich dir nichts tun!«
Jody ersparte sich eine Antwort. Er rannte weiter auf das Blockhaus zu, um dann abrupt an einem steilen Abhang stehenzubleiben, wo ein Erdrutsch die sanft ansteigende Anhöhe abrasiert hatte. Zwei riesige Bäume waren dabei entwurzelt worden, waren umgestürzt und hatten im Erdreich ein Loch wie eine offene Wunde hinterlassen.
Jody hatte keine Zeit, das Hindernis zu umgehen. Dorman kam viel zu schnell näher; er stolperte den Hang hinunter, hielt sich dabei an den Bäumen fest und schleppte sich unbeirrt weiter. Der Abhang sah viel zu steil aus. Er konnte unmöglich hinunterklettern.
Er hörte wieder das Hundegebell und sah links vom Erdrutsch, ein Stück unter sich, Vader breitbeinig stehen, die Pfoten in den Boden gegraben, das Fell voller Kletten und vertrockneter Kiefernnadeln. Er bellte den Jungen an.
Jody hatte keine andere Wahl als ihm zu folgen. Er schwang sich vorsichtig über den Rand des Erdrutsches und kletterte langsam nach unten. Auf der Suche nach einem Halt bohrte er seine Finger in das kalte Erdreich und trat auf lockere Steine. Er hörte Zweige knacken und Äste brechen, als Dorman näher und näher kam.
Jody versuchte sich zu beeilen. Er sah nach oben und entdeckte, daß ihn die breitschultrige Gestalt fast erreicht hatte. Er keuchte - und seine Hand rutschte ab.
Jodys Fuß trat auf einen Felsbrocken, der wie ein verfaulter, gelockerter Zahn aus dem Erdreich ragte und unter seinem Gewicht abrupt nachgab. Er unterdrückte einen Schrei, als er in die Tiefe stürzte. Seine Finger krallten sich verzweifelt in die Erde, aber er rutschte immer weiter ab, überschlug sich mehrmals, von Geröll begleitet.
Für einen kurzen Moment sah Jody Dorman am Rand des Erdrutsches stehen, die Hände wie Klauen ausgestreckt, bereit, sich zu bücken und ihn zu packen - aber der Junge war schon zu weit entfernt und rutschte immer schneller in die Tiefe.
Im Fallen drehte sich Jody, schlug zuerst mit der Seite, dann mit dem Kopf gegen etwas Hartes — aber er blieb bei Bewußtsein, von der Angst erfüllt, daß er sich ein Bein brechen oder eine andere Verletzung zuziehen könnte und Dorman ihn dann einholen würde.
Steine und Erdreich regneten auf ihn nieder, aber er schrie nicht, stöhnte nicht einmal - und endlich kam er am Fuß des Steilhangs, an einem der entwurzelten Bäume, zum Halt. Das verfilzte Wurzelwerk erinnerte an die Borsten einer schmutzverkrusteten Bürste. Er schlug hart gegen den Stamm und blieb einen Moment keuchend liegen, um sich dann mühsam aufzurichten. Sein Rücken schmerzte.
Dann sah er zu seinem Entsetzen, wie Jeremy Dorman den Steilhang hinunterschlitterte und es irgendwie schaffte, dabei nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Seine Füße bohrten tiefe Furchen in die weiche Hügelflanke und wirbelten Erdreich und Kieselsteine hoch. Er fuchtelte drohend mit seinem Revolver, damit sich Jody nicht von der Stelle rührte - aber Jody hatte ohnehin nicht die Kraft, aufzuspringen und davonzulaufen.
Dicht über dem Jungen blieb Dorman stehen. Sein Gesicht war gerötet... und seine Haut schien sich zu kräuseln, zu wellen, Blasen zu werfen wie ein Topf Kerzenwachs, der langsam zu kochen begann. Wut und Erschöpfung verzerrten das Gesicht des Mannes.
Er hob den Revolver, packte ihn mit beiden Händen und richtete die Mündung auf Jody, Sie sah wie das Auge eines Zyklopen aus, wie das aufgerissene Maul einer tödlichen Viper.
Dann sackten seine Schultern nach unten, und er starrte den Jungen ein paar Sekunden schweigend an. »Jody«, sagte er schließlich, »warum machst du es mir nur so schwer? Habe ich nicht schon genug durchgemacht - hast du nicht schon genug durchgemacht?«
»Wo ist meine Mom?« fragte Jody keuchend. Sein Herz hämmerte laut und sein Atem fühlte sich kalt und frostig an, stach wie mit Messern in seine Lunge. Schwankend kam er auf die Knie. Dorman fuchtelte wieder mit dem Revolver. »Ich brauche nur ein wenig Blut von dir, Jody, mehr nicht. Nur ein wenig Blut. Frisches Blut.«
»Ich sagte, wo ist meine Mom?« schrie Jody.
Dormans Miene verdüsterte sich. Der Junge und der Mann waren so auf sich
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