Akte X
konzentriert, daß keiner von ihnen gehört hatte, wie sich eine dritte Person näherte.
»Keine Bewegung! FBI!«
Fünf Meter weiter stand Dana Scully breitbeinig zwischen den Bäumen, die Arme ausgestreckt, ihre Pistole mit beiden Händen haltend, Dorman im Visier. »
»Rühren Sie sich nicht von der Stelle«, warnte sie.
Scully war keuchend dem Gebell des Hundes und dem wütenden Geschrei gefolgt. Als sie den massigen Mann drohend über Jody Kennessy stehen sah, wußte sie, daß sie diesen Mann - diesen Träger des tödlichen virulenten Krebses - mit allen Mitteln daran hindern mußte, den Jungen zu berühren.
Der furchterregende Mann und der Junge drehten sich gleichzeitig um und starrten sie verblüfft an. Erleichterung huschte über Jodys Gesicht, verwandelte sich aber schnell in Argwohn. »Sie sind eine von ihnen!« flüsterte der Junge.
Scully fragte sich, wieviel Patrice Kennessy ihm wohl erzählt hatte, wieviel Jody über den Tod seines Vaters und die mutmaßliche Verschwörung gegen die DyMar-Laboratorien wußte.
Aber was sie am meisten erstaunte, war das Aussehen des Jungen. Er wirkte gesund, nicht hager und ausgezehrt, nicht bleich und krank. Er hätte jetzt im letzten Stadium der tödlichen lymphoblastischen Leukämie sein müssen. Sicher, Jody wirkte erschöpft, zerschunden... von ständiger Furcht und Schlafmangel gezeichnet. Aber er sah gewiß nicht wie ein sterbenskranker Krebspatient aus.
Vor fast einem Monat hatte Jody auf der Schwelle des Todes gestanden. Aber jetzt war der Junge kilometerweit durch den Wald gerannt und von diesem Mann nur eingeholt worden, weil er gestolpert und einen steilen Hang hinuntergestürzt war.
Der große Mann bedachte Scully mit einem drohenden Blick, ignorierte sie dann und beugte sich zu dem Jungen.
»Ich sagte, keine Bewegung«, schrie Scully. Sie hatte den Revolver in seiner Hand bemerkt und fürchtete, daß er Jody als Geisel nehmen wollte. »Lassen Sie Ihre Waffe fallen«, befahl sie, »und weisen Sie sich aus.«
Der Blick des Mannes verriet soviel Abscheu und Ungeduld, daß sie unwillkürlich fror. »Sie wissen nicht, was hier vor sich geht«, sagte er. »Hören Sie auf, sich einzumischen. « Gierig sah er wieder auf Jody hinunter, dann kehrte sein Blick abrupt zu Scully zurück. »Sind Sie einer von ihnen? Hat der Junge recht? Sind Sie hier, um uns beide zu beseitigen?«
Ehe sie antworten oder weitere Fragen stellen konnte, schoß ein dunkler Schemen wie ein raketengetriebener Rammbock aus dem Unterholz und auf den Mann zu, der Jody bedrohte.
Es war der Hund, erkannte Scully, der schwarze Labrador, der von einem Auto angefahren worden war, seine schweren Verletzungen irgendwie überlebt hatte, dann aus der Tierarztpraxis geflohen und zu Patrice und Jody zurückgekehrt war.
»Vader!« schrie Jody.
Der Hund sprang. Labradors sind keine Kampfhunde, aber Vader mußte die Furcht und die Spannung in der Luft gespürt haben. Er wußte, wer der Feind war, und er griff an.
Der kräftige Mann fuhr herum, riß seine Waffe hoch und wollte auf den plötzlich aufgetauchten Angreifer schießen - aber da prallte der Hund schon knurrend und zähnefletschend gegen ihn. Der Mann stieß einen Schrei aus, schlug mit der freien Hand wild um sich - und drückte den Abzug.
Der Schuß hallte wie ein Donnerschlag durch den stillen Wald fernab der Straße.
Die Kaliber-38-Kugel traf den Jungen in die Brust, bevor er sich zur Seite werfen konnte. Blut spritzte aus der Wunde, und die Wucht des Einschlags schmetterte die schmale Gestalt des Jungen gegen den entwurzelten Baum, als hätte ihn jemand an unsichtbaren Fäden abrupt nach hinten gerissen. Jody schrie und rutschte an dem regennassen Stamm des umgestürzten Baumes nach unten. Vader warf den Schützen zu Boden. Der Mann versuchte, den Hund abzuschütteln, aber der rasende schwarze Labrador verbiß sich in seinem Gesicht, seiner Kehle.
Scully rannte zu dem verwundeten Jungen, sank auf die Knie und barg Jodys Kopf in ihrem Schoß. »Oh, mein Gott!«
Der Junge blinzelte. Seine Augen weiteten sich vor Erstaunen und sein Blick schien in die Ferne gerichtet. Blut quoll aus seinem Mund, und er spuckte es aus. »So müde.« Sie strich ihm übers Haar, unfähig, an den großen Mann zu denken, der auf ihn geschossen hatte.
Der Hund knurrte weiter, schnappte mit den Zähnen, grub seine Schnauze in die Kehle des Mannes, zerfetzte Sehnen. Blut spritzte auf den Waldboden. Der Mann ließ seinen rauchenden
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