Akte X
unterbrach Rubicons leise Stimme seine Gedanken. »Das endlose Warten ohne jede Nachricht.«
Hinter ihnen jauchzte wieder jemand »Bingo!«, und Reiseunterhalter Roland machte sich an die Arbeit, indem er gewissenhaft die Zahlen abhakte. Offenbar winkte dem Gewinner jeder Runde ein kostenloses tropisches Getränk im Hotel der Reisegruppe in Cancuen.
Mulder hoffte inständig, daß die gesamte Gruppe am Flughafen in einen Doppeldecker-Luxusbus steigen und auf Nimmerwiedersehen in einer der vielen Bettenburgen verschwinden würde – in irgendeinem Hotel, wenn es nur weit genug von demjenigen entfernt war, in dem er, Scully und Rubicon Zimmer reserviert hatten.
Endlich begann die Maschine langsam zu sinken, und Mulder konnte in der Ferne deutlich die Küstenlinie der Yucatan-Halbinsel erkennen, eine geschwungene Kurve, die das türkisfarbene Wasser der Karibik durchschnitt.
»Wenigstens können Sie etwas unternehmen, um Ihre Tochter zu finden«, sagte Mulder zu Rubicon. »Sie haben einen Anhaltspunkt.«
Rubicon nickte, faltete sein Notizpapier zusammen und steckte es in die Tasche. »Es tut gut, wieder zu reisen – ein bißchen herumzukommen, meine ich... Es ist lange her, daß ich zum letzten Mal Feldforschung betrieben habe. Ich hatte gedacht, die Zeit meiner aufregenden Indiana-Jones-Abenteuer sei längst vorüber.«
Er schüttelte den Kopf und sah dabei unendlich müde aus. »Ich habe viel zuviel Zeit damit vergeudet, zu lehren, Vorlesungen über archäologisch bedeutsame Funde zu halten, die jemand anderes entdeckt und in ein Museum gebracht hat. Ich habe mich zu einem alten Knacker erniedrigen lassen, der von seinem vergangenen Ruhm lebt und nichts tut, als herumzutrödeln.« Das letzte Wort stieß er mit bitterer Selbstverachtung hervor. »Ich wünschte nur, es wäre nicht so ein... Ereignis nötig gewesen, um mich aus meinem Trott zu reißen.«
Scully beugte sich zu ihm hinüber. Ihr Blick beschwor den alten Mann. »Wir werden alles tun, um Ihre Tochter zu finden, Dr. Rubicon. Wir werden die Wahrheit herausfinden.«
7
Dschungel von Yucatan, nahe Xitaclan
Donnerstag abend,
Bei Nacht barg der Dschungel tausend Geräusche, tausend Schatten, tausend Drohungen... Die große Silbermünze des Mondes warf ihr wäßriges Licht wie Regen über das Land, der kaum die geballten Fäuste der hohen Äste durchdringen konnte. Pepe Candelaria fühlte sich wie in einem anderen Universum, einer gefährlich fremden Welt.
Er blieb stehen, um sich zu orientieren. Er konnte die Sterne sehen, doch der Trampelpfad durch das Unterholz war kaum zu erkennen. Aber auch ohne den Pfad kannte er den Weg zurück zu den Ruinen von Xitaclan – sein unbeirrbarer Richtungssinn war eine angeborene Fähigkeit, eine Gabe seiner indianischen Vorfahren, die diese Wildnis mit wachen Instinkten beherrscht hatten.
Dornbüsche rissen an seinen hellen Baumwollärmeln wie die krallenden Hände verzweifelter Bettler. Mit der schartigen Machete seines Vaters hackte er sich den Weg frei und marschierte zügig weiter: Er empfand es als große Ehre, daß sein Freund und Arbeitgeber Fernando Victorio Aguilar solches Vertrauen in ihn setzte. Pepe war Fernandos zuverlässigster Führer und Gehilfe – allerdings bedeutete ein so großes Maß an Vertrauen nur allzuoft, daß Pepe seine Aufgaben ohne jegliche Unterstützung erledigen mußte. Bisweilen glaubte er, daß seine Arbeit von einem Mann allein nicht zu schaffen war, daß Fernando ihn ausnutzte, ihn zu weit trieb – trotzdem konnte Pepe seinem verehrten Chef nichts abschlagen. Außerdem bezahlte Fernando ihn fürstlich.
Pepe Candelaria hatte vier Schwestern, eine dicke Mutter und einen toten Vater. Auf seinem Sterbebett hatte der Vater, schwitzend und stöhnend unter einem Fieber, das wie Lava unter seiner Haut pulsierte, Pepe das Versprechen abgenommen, sich um die Familie zu kümmern. Und nun nahmen Pepes Mutter und seine Schwestern ihn beim Wort...
Er duckte sich unter einem tiefhängenden Gewirr knorriger Äste hindurch. Als er an die Zweige stieß, fiel ein kleines, vielbeiniges Tier auf seine Schulter. Pepe fegte es mit einer raschen Handbewegung beiseite, ohne die Kreatur zu identifizieren. Im Dschungel mußte man schnell handeln – die Bisse von Spinnen und Insekten waren oft giftig oder zumindest sehr schmerzhaft.
Der Mond stieg weiter, warf jedoch nur wenig Licht durch den Schleier hoher Wolken, die rasch über den Himmel zogen. Wenn Pepe Glück hatte und hart arbeitete, würde er
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