Akte X
vielleicht vor der Dämmerung wieder zu Hause sein können.
Pepe folgte seinem Instinkt durch den Wald, orientierte sich am verworrenen Netz der alten Pfade, der nirgendwo verzeichneten Straßen, die seit Jahrhunderten von den Nachkommen der Maya und Tolteken benutzt wurden. Unglücklicherweise führte keiner dieser Wege zu den heiligen Stätten in Xitaclan, und Pepe mußte sich mit seiner Machete seinen eigenen Weg freischlagen. Er fluchte lautlos und wünschte, er hätte die Klinge besser geschärft.
Sein Vater war an einer infizierten Wunde gestorben, einem Stich von einem tödlichen, feuerroten Skorpion. Pater Ronald in der Missionsstation hatte es dem Willen Gottes zugeschrieben, während Pepes Mutter unter Tränen erklärt hatte, es sei die Rache der Tlazolteotl, der Göttin der verbotenen Liebe... und ein Hinweis darauf, daß ihr Mann untreu gewesen sei.
Deshalb weigerte sich Pepes Mutter, mit ihrem Mann in einem Raum zu bleiben, während er starb – und dann hatte sie verlangt, daß seine Leiche der Tradition entsprechend unter dem Lehmfußboden ihres Hauses begraben wurde. Danach blieb der Familie keine andere Wahl, als ihre kleine Behausung zu verlassen, so daß Pepe gezwungen war, ein neues Haus für sie zu beschaffen.
Der Bau dieses Hauses war nur die erste der neuen finanziellen Lasten gewesen, die Pepe tragen mußte. Von nun an verließen sich die Mutter und die Schwestern darauf, daß der Bruder sich für sie aufrieb, um für die Schande seines Vaters zu sühnen und sein eigenes Versprechen, das er dem Familienoberhaupt in der bewegenden Stunde seines Sterbens gegeben hatte, einzulösen.
Und Pepe tat es. Er mußte. Auch wenn es nicht immer leicht war.
Das Geld, das er von Fernando Victorio Aguilar bekam, verschaffte ihnen allen genug zu essen, half ihm, das Haus in gutem Zustand zu erhalten, und hatte ihm sogar ermöglicht, seiner kleinen Schwester Carmen einen Papagei zu kaufen. Sie hing an dem Vogel und hatte ihm beigebracht, Pepes Namen zu sagen, was ihn geradezu entzückte... außer, wenn der Papagei mitten in der Nacht »Pepe! Pepe!« krächzte.
Zwei trockene Blattwedel einer Palme schabten gegeneinander und erzeugten das Geräusch einer gereizten Klapperschlange. Während er gegen die herabhängenden Ranken ankämpfte, sehnte sich Pepe allerdings nach dem Gekrächze des Papageis, wünschte er sich, das leise Atmen seiner schlafenden Schwestern und das tiefe Schnarchen seiner Mutter zu hören. Doch zuerst mußte er nach Xitaclan, um Fernandos Auftrag zu erledigen.
Er wußte nur zu gut, was seine Aufgabe war. Solange Exzellenz Xavier Salida ein interessierter und begieriger Käufer war, brauchte Fernando immer neue Kostbarkeiten aus den alten Ruinen, und Pepe besorgte sie ihm. Fernando brauchte Pepe, um die Gunst der Stunde zu nutzen. Und auch Pepes Taschen würden sich mit Geld füllen...
Die alte Stadt war verödet, nachdem das amerikanische Archäologenteam verschwunden war. Pepe war besonders froh, daß die Ausländer nicht mehr in den Ruinen herumstöberten – Fernando konnte es nicht zulassen, daß Fremde sich mit seinen Schätzen davonmachten, während Pepe einfach nicht wollte, daß sie die wundersamen Werke seiner Vorväter berührten, katalogisierten und analysierten wie die unterhaltsamen Trümmer einer untergegangenen Zivilisation. Fernandos Kunden wußten die Kleinode wenigstens als das zu schätzen, was sie waren.
Ohne Fernandos Hilfe hätte Pepes Familie sicherlich hungern müssen. Seine Schwestern, selbst die kleine Carmen, wären gezwungen gewesen, auf den Straßen von Merida als Prostituierte zu arbeiten, und Pepe selbst hätte sich vielleicht auf den Marihuana-Feldern von Xavier Salida, Pieter Grobe oder einem der anderen Drogenbosse verdingen müssen. Die Bergung kostbarer Maya-Kunst aus lange verlassenen Ruinen war da doch die weitaus bessere Alternative. Sie war ehrenhafter... und einträglicher.
Pepes Mutter verehrte Fernando, flirtete mit ihm, lobte sein Aftershave und seinen Hut aus Ozelotfell. Fernandos Gönnerschaft, behauptete sie, sei ihrem Sohn als Geschenk der alten Götter zuteil geworden... als Geschenk des Gekreuzigten – je nachdem, ob sie im Augenblick gerade an die Dämonen ihrer Vorfahren oder an Jesus Christus dachte. Pepe erhob keine Einwände: woher sie auch kommen mochte, er nahm eine solche Gunst mit freudigem Herzen an.
Bei den sonntäglichen Gottesdiensten im Dorf fand Pepe manche der phantastischen Geschichten, die Pater Ronald aus der Bibel
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