Akte X
Archäologenteam seine Ausgrabungen begonnen und die Fundstätte vom dichtesten Pflanzenwuchs befreit hatte, den der jahrhundertelange Dornröschenschlaf hinterlassen hatte. Die Furchen und abgehackten Baumstümpfe wirkten wie offene Wunden in der Erde.
Das amerikanische Team war erst seit wenigen Tagen verschwunden, und der Dschungel würde sein Territorium bald wieder zurückerobern. In der Mitte der Plaza von Xitaclan beherrschte die Stufenpyramide die Szene. Die gleichmäßig angeordneten Plattformen waren an einer Seite, wo die Kräfte von Wurzeln und Ranken riesige Steinquader aus dem Mauerwerk gerissen hatten, teilweise abgebröckelt. Doch an der Spitze der Zikkurat stand der immer noch intakte Tempel Kukulkans, des Gottes der Weisheit, flankiert von seinen Leibwächtern in Gestalt gefiederter Schlangen.
Pepe würde ins Innere der Pyramide gehen und durch die schmalen Gänge stöbern müssen, bis er ein paar neue Alkoven fand, die Artefakte aus Jade, unbeschädigte Gefäße oder mit Glyphen bemalte Kacheln enthielten. Später würde sich Fernando Aguilar eine phantastische Geschichte zu den Fundstücken einfallen lassen, um ihren potentiellen Wert zu steigern. Pepe mußte ihm nur die Kleinode bringen und seinen Anteil an dem Geld entgegennehmen.
Mit leichten Schritten trat er auf die Lichtung hinaus – dann riß er den Kopf herum, als er aus dem Augenwinkel eine Bewegung bemerkte, rätselhafte Schatten, die an den schrundigen Stufen der Pyramide herabglitten wie heißes Öl, das über eine Wasserfläche rinnt.
Pepe blieb still stehen, doch die Schatten bewegten sich weiter. Und weiter... Sie kamen auf ihn zu.
Über ihm raschelte es in den Ästen. Am Waldrand schwankten die großen, federartigen Farne, als ein großes Wesen durch das vielblättrige Unterholz kroch.
Pepes Augen verengten sich zu Schlitzen und huschten hin und her. Er wischte sich den kalten Schweiß von der Stirn und hielt die schimmernde Klinge seiner Machete empor, um sich gegen einen angreifenden Jaguar oder Keiler wehren zu können. Er holte tief Luft, machte einen weiteren Schritt von den Bäumen weg und vergewisserte sich durch einen raschen Blick nach oben, daß sich kein großes Raubtier auf ihn stürzen konnte.
Der Mond glitt hinter eine Wolke und verbarg sein schwaches, aber beruhigendes Licht. Pepe erstarrte und lauschte mit hellwachen Sinnen – der ganze Dschungel schien in Bewegung zu geraten und voller Lebewesen zu sein, die mit vollkommener Lautlosigkeit auf ihn zu schlichen. In der nun tieferen Dunkelheit sah er ein schwaches Schimmern, das die Umrisse der Pyramide mit einem leuchtenden Nebel umgab, der aus dem dunklen Schlund des Cenote-Schachts aufzusteigen schien.
Pepe schluckte schwer und entfernte sich vorsichtshalber von den herabhängenden Ästen eines hohen Chiclebaums. Wenn er nur wüßte, wo er Unterschlupf finden konnte! Er war weit weg von irgendeinem Dorf oder irgendwelcher Hilfe. Konnte er sich im Inneren der Pyramide verstecken? In der mit Trümmern übersäten Ballspielarena, wo die Sportler der Maya vor jubelndem Publikum ihre gewalttätigen Spiele zelebriert hatten? Oder sollte er zurück in den Wald laufen, weg von Xitaclan? Bei Tagesanbruch würde es im Dschungel viel sicherer sein. Aber nicht jetzt, nicht in der Nacht. Niemals in der Nacht.
Niemals in der Nacht – er hätte es wissen müssen.
Dann sah Pepe zwei lange, geschmeidige Formen über die Steinquader eines eingestürzten Tempels näherkommen. Die Kreaturen glitten mit reptilienhaften, flüssigen Bewegungen dahin, mit einer an Vögel erinnernden Anmut, ruckartig und doch behutsam: es waren die beiden Schatten, die er an den steilen Stufen der Pyramide bemerkt hatte. Sie verströmten einen bannenden, lähmenden, überirdischen Zauber – völlig anders als das drohende, träge Nahen des Kaimans, den Pepe am Fluß im Dschungel gesehen hatte.
Am Rande der Ballspielarena stand eine mit Glyphen geschmückte Stele, ein steinerner Monolith, den die Maya benutzt hatten, um ihren Kalender, ihre Eroberungen und ihre religiösen Feste aufzuzeichnen. Ein dritter Schatten löste sich von der Seite der Stele und glitt geschmeidig auf ihn zu.
Pepe ließ die Machete seines Vaters durch die Luft sausen, in der Hoffnung, die Drohgebärde würde die Kreaturen in die Flucht schlagen. Doch sie kamen nur noch schneller auf ihn zu.
Die hohen, dünnen Wolken teilten sich, das Mondlicht kehrte zurück... und erfüllte die Düsternis der ausgegrabenen Plaza mit grotesk
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