Akte X
vorlas, zwar unterhaltsam, bezweifelte jedoch, daß sie eine Bedeutung für sein Leben hatten. Singende Engel und Heilige in weißen Gewändern mochten erbaulich sein für Leute, die ein behagliches Leben führten und klimatisierte Kirchen besuchten, doch hier im dichten Dschungel Yucatans, im urzeitlichen Schoß der Erde, schienen die älteren... die ursprünglicheren Vorstellungen größere Glaubwürdigkeit zu besitzen.
Besonders in Momenten wie diesen.
Über ihm knackte ein Ast und sank auf andere Zweige herab. Blätter flüsterten, als ein Tier ungesehen durch die Baumwipfel huschte... eine Schlange, eine Affe, ein Jaguar.
Pepe watete durch einen schmalen Fluß, fand ihn auf der imaginären Karte in seinem Kopf und wußte exakt, wo er sich befand und wie nahe er seinem Ziel gekommen war. Xitaclan war nicht mehr fern.
In einem Dickicht aus duftenden Hibiskusbüschen erklang ein heftiges Rascheln. Ein schwerer Körper tauchte spritzend ins Wasser, und Pepe erkannte Reptilienaugen und die geschmeidigen Formen eines in der Nacht jagenden Kaimans – groß und hungrig, nach den Wellen zu urteilen, die über das Wasser pfeilförmig auf ihn zukamen. Pepe stapfte eilig durch den Schlamm, erklomm die Böschung, rannte durch das Unterholz und ließ den Alligator hinter sich zurück.
Über sich hörte er weitere Bewegungen, knackende Äste, herabfallende Blätter. Er hoffte etliche angstvolle Herzschläge lang, daß es keine Raubkatze war, die herabspringen und ihn mit ihren gebogenen Klauen und mächtigen Fängen zerreißen würde... Erleichtert hörte er das Gezeter einer Horde Affen, die er durch seine Flucht vor dem Kaiman aus dem Schlaf geschreckt hatte. Er seufzte und spürte, wie ihn ein Schauer durchlief. In der alten Religion waren die Jaguare verehrt worden, doch Pepe hätte es kaum als Segen empfunden, einem dieser Dschungelleoparden allein in der Nacht zu begegnen.
Seit Jahrhunderten hatten die katholischen Priester ihr Bestes getan, die immer noch bestehende Macht des alten Glaubens einzudämmen. Im Dorf ereiferte sich Pater Ronald mit Geschichten vom Fegefeuer und von ewiger Verdammnis, wann immer er Anzeichen für rituell vergossenes Blut entdeckte, durch Selbstkasteiung zurückgebliebene Narben oder gar fehlende Finger und Zehen, die mit rasiermesserscharfen Obsidianmessern abgeschnitten worden waren. Die Dorfbewohner entschuldigten sich, taten Buße und zeigten vor den Priestern unterwürfige Scham... doch ihren Glauben änderten sie nicht. Ihr Denken und Fühlen hatte sich seit dem Kommen der Spanier vor über fünfhundert Jahren nicht verändert.
Manchmal wusch reines Opferblut Flecken ab, die selbst die häufigen Regenfälle der Tropen nicht auslöschen konnten.
Pepe erinnerte sich noch lebhaft daran, wie seine Mutter draußen vor der Hütte hockte, während sein Vater nach dem Skorpionstich im Sterben lag. Sie zog sich eine dornige Ranke durch den Mund, um ihre Zunge aufzureißen, damit sie ihr eigenes helles Lebensblut als Opfer auf die Erde speien konnte. Doch das Opfer hatte nicht geholfen, und Pepe fragte sich, ob die alten Götter vielleicht mehr Blut verlangt hatten, als sie zu geben bereit gewesen war.
In den alten Zeiten hatten die Götter der Maya sich weidlich am Blut gelabt, an den Herzen, die bereitwilligen Opfern aus dem Leib gerissen wurden, an den wehrlosen Gefangenen, die in die heiligen Kalksteinbrunnen neben den großen Tempeln gestürzt wurden. Doch heute waren von dieser Herrlichkeit nur noch Ruinen und kunstvoll behauene Säulen übrig. Vielleicht waren die Götter der Opfer am Ende müde geworden und hatten ihre schützenden Hände von Pepes Vorfahren zurückgezogen...
Pepe schüttelte den Kopf, vertrieb diese Gedanken. Er hatte Wichtigeres zu tun, und nachdem er noch eine weitere Stunde wie ein Dieb lautlos durch die Dschungelnacht geschlichen war, erreichte er schließlich die vergessene Metropole von Xitaclan.
Er teilte die breiten, glatten Blätter eines Bananenbaums und blickte auf die mondbeschienene Lichtung hinaus: auf die groben Trümmer eingestürzter Tempel, die mit Skulpturen bedeckten Mauern, die die hakennasigen Masken des Regengottes Chac zeigten, auf die zahllosen Abbilder gefiederter Schlangen, die nun von Moos und Ranken überwuchert waren, und auf die beeindruckende Pyramide des Kukulkan, die hoch in die Nacht aufragte, wenn sie auch von Pflanzenwerk beinah erstickt wurde.
Einige der mächtigeren Bäume waren gefällt und abtransportiert worden, als das
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