Akte X
auslöste, in meine Fußstapfen zu treten.«
Rubicon schluckte schwer und setzte seine Halbbrille ab. »Deshalb wird die Schuld auf mir lasten, wenn ihr etwas Schreckliches passiert sein sollte. Sie hat sich mehr auf die mesoamerikanischen Zivilisationen konzentriert und ist den Spuren der Azteken, Olmeken und Tolteken gefolgt, die sich über Mexiko ausbreiteten, indem eine Kultur die andere ablöste und jeweils die besten Errungenschaften übernahm. Ich war mir nie im klaren darüber, ob Cassandra so ehrgeizig forschte, weil sie die Arbeit selbst liebte, oder ob sie mich beeindrucken wollte... oder ob sie einfach nur mit ihrem alten Herrn wetteifern wollte. Ich hoffe, ich bekomme noch einmal die Chance, das herauszufinden.«
Mulder runzelte die Stirn, sagte aber nichts.
Nach ungefähr einer Stunde begingen die Senioren eine Tat, die für Mulder einer Flugzeugentführung gleichkam. Ein alter Mann mit einer Golfmütze baute sich vor der Stewardessen-Kabine auf und ergriff das Mikrophon der zentralen Lautsprecheranlage.
»Herzlich willkommen bei Viva Sunset Tours!« brüllte er mit einem breiten Grinsen und tippte sich mit dem Finger an die Golfmütze. »Ich bin Roland, Ihr Reiseunterhalter – sind wir auch dabei, uns schön zu amüsieren?«
Die Rentiers stießen laute Hochrufe aus, die die Innenhülle der Maschine erzittern ließen. Jemand juchzte, während einzelne andere heftige Buhrufe von sich gaben.
»Denken Sie sich einfach, es ist die zweite Kindheit«, murmelte Scully sarkastisch. Mulder schüttelte fassungslos den Kopf.
Sodann verkündete Reiseunterhalter Roland, die Besatzung hätte ihnen freundlicherweise die Benutzung der Lautsprecheranlage erlaubt, damit sie in der letzten Stunde ihres Fluges ein paar Runden Bingo spielen könnten.
Mulder spürte, wie sich sein Magen zusammenkrampfte. Mit angestrengt freundlichen Gesichtern marschierten die Stewardessen durch die Gänge und verteilten Kugelschreiber und mit Zahlen bedruckte Spielkarten, während Roland einen dummen Spruch nach dem anderen zum besten gab.
Nach einer Weile stumpften Mulders Nerven gegen das Geplapper über die Lautsprecher ab, und es wurde zu einem Dröhnen im Hintergrund, das sich leicht ignorieren ließ... bis eine dickliche alte Frau von ihrem Sitz aufsprang und »Bingo! Bingo!« schrie, als ginge es um ihr Leben.
Mulder starrte aus dem Fenster und sah nichts außer dem blauen Ozean und vereinzelten weißen Wolken. »Ich frage mich gerade, ob wir nicht vielleicht in der Nähe des Bermuda-Dreiecks sind«, murmelte er und grinste.
Hätte Scully neben ihm gesessen, sie hätte ihm mit geübtem Schwung einen Rippenstoß verpaßt – Vladimir Rubicon hingegen kaute gemächlich an einer der Brezeln, die die Stewardeß verteilt hatte, nippte an seinem Pappbecher mit Kaffee und räusperte sich schließlich, um Mulders Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.
»Agent Mulder«, sagte er kaum verständlich durch den dröhnenden Hintergrundlärm der Touristenklasse, »mir scheint, daß auch Sie eine tiefe Traurigkeit in sich haben. Haben Sie jemanden verloren, der Ihnen nahestand? Der Schmerz hängt Ihnen immer noch wie ein Mühlstein am Hals.«
»Die gar traurige Weise vom alten FBI-Agenten«, spöttelte Mulder. Doch im Grunde war ihm nicht nach Scherzen zumute, und er sah Rubicon ernst und offen in die Augen. »Ja, ich habe jemanden verloren.«
Rubicon legte Mulder seine kräftige, schwielige Hand auf den Arm. Der Archäologe war feinfühlig genug, um nicht weiter nachzuhaken, und Mulder widerstrebte es, auch nur seine Erinnerungen an das helle Licht zu schildern... die Entführung durch die Außerirdischen... wie seine Schwester in die Luft empor und aus dem Fenster hinaus getragen wurde, während er die spindeldürre, fremdartige Silhouette erblickt hatte, die vom lichtdurchfluteten Eingang her winkte.
Mulder hatte diese Bilder lange Jahre vor sich verborgen gehalten und sie erst durch intensive regressive Hypnose wieder rekonstruieren können. Scully vermutete insgeheim, daß Mulders Erinnerung an den Vorfall ihn möglicherweise trog, daß die Hypnosesitzungen nur Visionen verstärkt hatten, an die er selbst glauben wollte... sie hatte ihren Verdacht jedoch nie offen ausgesprochen.
Denn Mulder mußte seiner Erinnerung vertrauen. Er hatte nichts anderes, woran er sich halten konnte – außer seinem Glauben, daß seine Schwester Samantha am Leben war und er sie eines Tages wiederfinden würde.
»Die Ungewißheit ist das Schlimmste«,
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