Akte X
damit sie untergingen... Bei
besonderen Opferzeremonien wurde der Todeskandidat
manchmal schon ein ganzes Jahr im voraus ausgewählt.
Er führte ein Leben im Überfluß, mit köstlichen Speisen,
schönen Frauen und prächtigen Kleidern – bis zu dem
Tag, an dem man ihn in einen Rausch versetzte und an
den Rand der Cenote führte, um ihn dann in das heilige
Wasser zu stoßen.«
»Und ich dachte immer, die Maya wären ein
vorwiegend friedliches Volk gewesen...«
»Das ist ein alter Irrglaube, eine völlig verkehrte
Geschichte, die von einem Archäologen in Umlauf
gebracht wurde, der die Maya über jede gesunde
Urteilskraft hinaus bewunderte – und darum seine
Erkenntnisse ein wenig zurechtbog. Er wollte das Blutvergießen beschönigen, das aus den Schriften und
Schnitzereien zu entnehmen war.«
»Ein archäologischer Quacksalber«, warf Mulder ein. »Die Kultur der Maya war in Wirklichkeit ziemlich
gewalttätig und vergoß viel Blut, vor allem in den
späteren Epochen unter dem Einfluß der Tolteken. Sie
fanden es großartig, sich selbst zu verletzen und sich in
Selbstverstümmelungszeremonien Finger und Zehen
abzuhacken... Der blutrünstigste Kult von allen bezog
sich auf den Gott Tlaloc, dessen Priester die großen Feste
vorbereiteten, indem sie an Mütter herantraten, um
ihnen ihre kleinen Kinder abzukaufen. Während einer
großen Zeremonie wurden die Kinder bei lebendigem
Leib gekocht und dann, hm, mit großem Pomp und
Prunk verspeist. Die Priester freuten sich besonders,
wenn die Säuglinge schrien oder heulten, während sie zu
Tode gefoltert wurden, äh, weil sie dachten, in den
Tränen läge die Verheißung eines regenreichen Jahres.« Scully schauderte, als sie am Rande des Schachtes
stand, in das Dunkel der Cenote hinabstarrte und an all
die fürchterlichen Geheimnisse dachte, die der Grund
dieses Brunnens bergen mochte.
»Aber ich bin sicher, daß heute niemand mehr diese
Religion praktiziert«, schloß Rubicon, als wolle er sie
beschwichtigen. Er wischte sich mit gespielter
Gelassenheit die Hände an der Hose ab. »Sie brauchen
sich keine Sorgen zu machen. Ich bin sicher, daß das nichts mit all den Gerüchten über vermißte Personen zu
tun hat... oder mit Cassandra.«
Scully nickte ohne Überzeugung. Ja... warum auch? Sie
saßen ja nur völlig isoliert, zwei Tage von der nächsten
Straße entfernt, in einer verlassenen Ruinenstadt fest,
einer sagenumwobenen Stätte, in der die Maya unzählige
Blutopfer dargebracht hatten. In einem Ort, wo vor
kurzem ein ganzes Team amerikanischer Archäologen
verschwunden war...
Also, dachte sie. Warum soll ich mir Sorgen machen?
15
Ruinen von Xitaclan Sonntag, 18.38 Uhr
Mulder stand in der Nähe der Opferplattform am Rande des Kalksteinschachts und stierte in die Tiefe, die ihn zu sich hinabzulocken schien. Die Luft roch sauer und schimmelig, mit einem Anflug von Verwesung. Er fragte sich, welche Wunder voller Schrecken wohl in dem trüben Wasser liegen mochten, wie tief der Brunnen war, wie viele Menschenknochen er in seinem Schlund verborgen hielt.
Ein Prickeln lief an seiner Wirbelsäule empor, ein brütendes Unbehagen – doch er hätte nicht sagen können, woher es rührte. Die vielfarbigen Strahlen der untergehenden Sonne und das trübe, bernsteinfarbene Licht warfen lange Schatten. Mulder glaubte, dunkle Formen wie Öl in der Cenote herumwirbeln zu sehen, und er spürte ein leichtes Zittern unter seinen Füßen... eine Vibration wie von Maschinen, die tief unter der Erde eingeschlossen waren und wummernd arbeiteten. Einen Moment lang dachte er an H. G. Wells’ Roman Die Zeitmaschine, in dem die bösartigen Morlocks mit ihren Maschinen in unterirdischen Höhlen schürften... gierig nach dem Fleisch der Oberflächenbewohner.
Das Wasser in der Cenote begann zu schäumen. Plötzlich stiegen große Blasen an die Oberfläche, jede einzelne so dick wie ein Faß, und spien gelbliches Gas aus der Tiefe empor.
»Was ist da los?« Scullys Stimme war unsicher.
Mulder wich von der rauhen Kante zurück, als die Vibration unter seinen Füßen stärker wurde. Eine Wolke von Gestank traf ihn, sauer und schweflig wie ein Riesenomelett aus tausend faulen Eiern. Er hielt sich die Nase zu und würgte. Scully, die es gewohnt war, auch unter den härtesten Bedingungen einer Autopsie Leichen und Verwesung zu riechen, zog die Nase kraus und rang nach Luft.
»Was für ein Gestank!« rief Fernando Aguilar. »Vielleicht ist das die legendäre Leiche von Tezcatlipoca«, meinte
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