Akte X
zum Lager, als die Diskussion zwischen Rubicon und dem langhaarigen Mexikaner hitziger wurde. Aufatmend setzte sie ihren Rucksack ab und ließ ihn neben dem Zelt zu Boden sinken. Obwohl es hellichter Tag war, war die gesamte Mannschaft der einheimischen Helfer wieder spurlos im Dschungel verschwunden... Und auf einmal kroch kaltes Unbehagen an Scullys Wirbelsäule empor.
Sie blieb bei einer der beiden hohen, reich mit gefiederten Schlangen verzierten Stelen stehen. Ohne genau zu wissen, warum, musterte sie das erodierte Relief und bemerkte eine Veränderung des dumpfen, verwitterten Kalksteins – hellrote Spritzer bedeckten die Schnitzereien, karmesinrote Kleckse wie von Ölfarbe, die von den Fangzähnen einer der größten Schlangen herabtropften. Neugierig und abgestoßen zugleich beugte sie sich vor.
Jemand hatte Blut in das steinerne Maul der gefiederten Schlange gerieben, als wollte er der Schnitzerei einen Geschmack davon geben... ein frisches Opfer. Scullys Augen folgten der Spur der Blutstropfen an der hohen Säule hinab zu den aufgeworfenen Steinplatten an ihrem Fuß.
»Mulder!«
Aufgeschreckt kam ihr Partner herbeigelaufen. Rubicon und Aguilar verstummten schlagartig, die Gesichter vom Streit gerötet, und drehten sich nach Scullys Aufschrei um.
Scully deutete auf die hellroten Streifen auf der Stele... und auf den menschlichen Finger, der in einer Lache gerinnenden Bluts auf der Steinplatte lag.
Mulder hockte sich hin und begutachtete den amputierten Finger. Nur für einen Moment flackerte ein Ausdruck von Abscheu über sein gleichmütiges Gesicht. Auch Aguilar und Rubicon kamen näher und starrten wortlos auf das Blut und den abgetrennten Finger.
»Sieht frisch aus«, sagte Scully gepreßt. »Nicht älter als eine Stunde etwa.«
Mit der Fingerspitze berührte Mulder die klebrige Flüssigkeit. »Es fängt gerade erst an zu trocknen. Es muß passiert sein, während wir auf der Pyramide waren. Aber ich habe keine Schreie gehört. Aguilar, Sie waren doch hier unten.«
»Nein, ich war draußen im Dschungel.« Angewidert schüttelte er den Kopf und nahm – wie um einem toten Freund die letzte Ehre zu erweisen – seinen Ozelotfellhut ab. »Ich hatte Angst, daß so etwas passieren würde, große Angst.« Er blickte sich verstohlen um, als befürchte er, die Indios würden sie vom Rand des Dschungels aus beobachten... um ihre potentiellen. Opfer auszuspionieren. »Ja, große Angst.«
Aguilar ging um die Stele herum und suchte nach weiteren Hinweisen. »Die Religion der Maya ist sehr alt. Ihre Rituale wurden tausend Jahre lang vollzogen, und sie wurden noch viel gewalttätiger, als sie sich mit denen der Tolteken vermischten. Die Leute vergessen ihre alten Götter nicht so leicht, eh?«
»Moment mal«, hakte Scully nach. »Wollen Sie damit sagen, daß manche der Maya-Nachkommen immer noch die alte Religion praktizieren? Herzen herausschneiden und Leute in die Opferbrunnen werfen?«
Ein unbestimmtes Grauen überkam Scully, als sie sich ein Szenario ausmalte, das offensichtlich realistisch war und das selbst Mulder glaubwürdig finden mußte: Cassandra Rubicon und ihr Team als Opfer eines blutrünstigen Rituals.
Rubicon räusperte sich. »Nun, manche Leute erinnern sich immer noch an die alten toltekischen Gesänge und beachten die Festtage, wenn auch die meisten von ihnen christianisiert wurden... oder zumindest zivilisiert. Einige wenige jedoch praktizieren immer noch die Blutrituale und, äh, die Selbstverstümmelungen. Besonders hier draußen, weit weg von den Städten.«
»Selbstverstümmelung?« Mulder hob überrascht die Stimme. »Sie meinen, einer dieser Indios hat sich seinen Finger selbst abgeschnitten?«
Rubicon nickte und berührte das blutige Muster auf der Kalksteinsäule. »Vermutlich mit einem Obsidianmesser.«
Zunehmend beunruhigt stellte sich Scully den religiösen Eifer, der nötig war, um ein behauenes Steinmesser zu nehmen und sich damit einen Finger abzuhacken... Sehnen und Knochen durchzusägen, ohne auch nur einen Schmerzenslaut von sich zu geben.
Rubicon jedoch wirkte unbeteiligt, als sei ihm die Möglichkeit, daß seine Tochter und ihre Gefährten geopfert worden sein könnten, noch gar nicht in den Sinn gekommen. »Bei den Ritualen der Maya und Tolteken wurde viel Blut vergossen, sowohl das eigene als auch das der Gefangenen und Opfer. Bei ihrem heiligsten Fest nahm der Hochkönig den Stachel eines Stachelrochens, griff unter seinen Lendenschurz und durchbohrte sich damit die
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