Akte X Novel
je die Freiheitsglocke gesehen?“ fragte er.
„Ja“, erwiderte Scully, während sie in den Wagen stieg.
Mulder klemmte sich hinter das Lenkrad. „Wissen Sie“, gestand er, als er den Sicherheitsgurt anlegte. „Ich war bestimmt schon hundertmal in Philadelphia, aber ich habe sie noch nie gesehen.“
„Wenn Sie mich fragen, haben Sie nicht viel verpaßt“, erklärte Scully. „Es ist eine große Glocke. Mit einem Sprung. Und Sie müssen sich in einer langen Reihe anstellen, wenn Sie sie sehen wollen.“
„Ja, aber... ich glaube, ich würde sie trotzdem gern sehen.“
„Warum jetzt?“
„Ich weiß es nicht. Was denken Sie, wie lange haben die geöffnet?“
Mulder lächelte still in sich hinein. Er verspürte wenig Lust, sich zu einer Erklärung aufzuraffen, aber irgendwie hatte ihn die Begegnung mit Howard Graves’ Geist daran erinnert, daß das Leben viel zu kurz war, um es einfach zu vergeuden.
Lauren Kyte entnahm einigen Ordnern eine Handvoll Papiere und legte sie in eine blaue Präsentationsmappe. Zwei Monate waren vergangen, seit sie Philadelphia verlassen hatte. Nun arbeitete sie für die Monroe Mutual Versicherungsgesellschaft in Omaha, Nebraska. Der Job war nicht gerade aufregend, aber andererseits war auch das ein Grund für sie gewesen, ihn anzunehmen. Hier gab es keine streng geheimen Technologien, nichts, was irgendwie mit der Sicherheit ihres Landes in Verbindung stand. Hier würde sie weder mit dem FBI noch mit Terroristen in Berührung kommen. Ihr Leben verlief wieder in einfachen Bahnen, und ihre Arbeit bestand darin, Versicherungsfälle in einer verschlafenen Stadt im Mittelwesten der USA zu bearbeiten.
Sie fühlte sich verändert. Wenn sie heute an einem Spiegel vorbeikam, erblickte sie noch immer dieselben Züge wie in Philadelphia, doch die permanente Anspannung, die sie dort gesehen hatte, war von ihr abgefallen.
Im Augenblick stand sie unter Termindruck. Hastig ordnete sie die Papiere in der Mappe, ehe sie zu Ms. Lange, der Chefsekretärin, eilte. Das war das einzig Unheimliche, dem sie an diesem Ort ausgesetzt war. Ms. Lange erinnerte sie an Ms. Winn, Dorlunds Sekretärin. Beide neigten gleichermaßen zu übertriebener Genauigkeit. Schlimmer noch, schien doch Ms. Lang außerdem noch ein abgrundtiefes Mißtrauen gegen jeden Menschen zu hegen, der aus dem Osten kam.
Ms. Lange runzelte verärgert die Stirn, als Lauren ihr den Ordner übergab. „Ms. Kyte, ich habe Sie bereits vor fünfundzwanzig Minuten um diese Papiere gebeten“, schnappte sie.
„Ich weiß... Es tut mir leid“, murmelte Lauren.
Ms. Lange war nicht gewillt, sich mit dieser Entschuldigung abzufinden. Sie verzog mißbilligend das Gesicht. „Mag sein, daß man drüben im Osten so arbeitet, aber hier, im mittleren Westen, ist Pünktlichkeit noch eine Tugend.“
Sie griff nach ihrer Kaffeetasse, und Lauren spürte, wie sich ihr Körper verkrampfte, als etwas sich veränderte.
In diesem Augenblick begann die Tasse zu vibrieren, immer stärker und stärker, bis sie schließlich fast auf dem Schreibtisch umgekippt wäre.
Lauren konnte es nicht fassen. Er war hier. Er war ihr nach Nebraska gefolgt!
Ms. Lange griff nach der Tasse und hielt sie fest. „Wir brauchen dringend neue Büroräume“, bemerkte sie. „Jedesmal, wenn auf der Straße ein Laster vorbeifährt, fängt das ganze Gebäude an zu wackeln.“
Lauren spürte, wie sie sich allmählich entspannte, während Ms. Lange an ihrem Kaffee nippte. Die Luft fühlte sich plötzlich anders an. Er war fort. Vielleicht war er nie hiergewesen. Vielleicht war es wirklich nur ein Lastwagen gewesen.
„Das ist alles, Lauren“, sagte Ms. Lange spitz.
Lauren ging zu ihrem Schreibtisch zurück und machte sich wieder an die Arbeit. Doch bereits im nächsten Augenblick hielt sie inne, um sich das vertraute Plastikschild anzusehen, das nun auf ihrem Schreibtisch stand. Ständig mußte sie darüber nachgrübeln, wie ihr Leben in Zukunft aussehen würde – und ob der Geist von Howard Graves auch weiterhin ein Teil davon bleiben würde.
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