Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Akunin, Boris - Pelagia 01

Akunin, Boris - Pelagia 01

Titel: Akunin, Boris - Pelagia 01 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pelagia und die weissen Hunde
Vom Netzwerk:
erwischt. Die Folge war ein äußerst unangenehmer Skandal. Um im Pagenkorps bleiben zu dürfen, sollte der Knabe seinen Vorgesetzten um Verzeihung bitten. Er weigerte sich strikt und wurde relegiert, damit war ihm der Weg zu einer glänzenden Hofkarriere verbaut. Ich habe diese lang zurückliegende Geschichte erwähnt, damit Sie die wesentliche Besonderheit im Charakter meines Mandanten besser verstehen. Er ist ein stolzer Mann, meine Herren, und daran ist nicht zu rütteln. Wenn gegen ihn ungeheuerliche, ja, absurde Beschuldigungen erhoben werden, verschmäht er es, sich zu rechtfertigen. Er schweigt stolz.«
    Es ist anzunehmen, dass diese »kleine Geschichte« sich nicht so sehr an die Geschworenen richtete, größtenteils ältere und gesetzte Männer, sondern vor allem an die weibliche Hälfte des Publikums, deren Haltung bei solchen Prozessen gewöhnlich die Atmosphäre bestimmt. Die Frauen, die auch schon vorher Bubenzow mit gierigem Interesse betrachtet hatten, würdigten die Anekdote nach Gebühr, und ihre Neugier erfuhr eine gewisse Metamorphose – war sie zuvor überwiegend beklommen gewesen, so wurde sie jetzt überwiegend teilnahmsvoll.
    Nachdem der geschickte Advokat diesen wichtigen, wenn auch unauffälligen Sieg errungen hatte, offenbarte er sogleich seine Schläue.
    »Ach, wie schade, dass Vertreterinnen des schönen Geschlechts nicht als Geschworene zugelassen sind«, sagte er mit einem zutiefst aufrichtigen Seufzer. »Sie sind weitaus barmherziger als die Männer. Aber ich, meine Herren Geschworenen, bitte Sie keineswegs um Barmherzigkeit oder, Gott behüte, um Nachsicht für Wladimir Bubenzow.«
    Es ergab sich von selbst, dass von dem zweiten Angeklagten kaum die Rede war. Entweder war der demutsvolle Selig für den Löwen der Anwaltschaft ohne Interesse, oder Lomejko ging davon aus, dass ein Freispruch der Hauptfigur ganz natürlich auch Seligs Haftentlassung nach sich ziehen würde.
    »Ihre Nachsicht würde diesen stolzen Mann nur peinigen. Vor allem deshalb« (hier tönte die Stimme des Verteidigers plötzlich wie eine Bronzeglocke), »weil er Ihrer Nachsicht nicht bedarf!!«
    Einige Geschworene runzelten bei diesen Worten die Brauen, Lomejko aber flog mit behenden Schritten zu dem langen Tisch, an dem die zwölf Volksvertreter saßen, und bat mit sanfter Stimme:
    »Schonen Sie ihn nicht. Vergessen Sie nur Ihren Groll gegen ihn. Sie haben nicht über seinen schlechten Charakter zu urteilen, nicht über seine Ausschweifung und seinen Ehrgeiz, sondern über schreckliche, grauenhafte Verbrechen, die, das versichere ich Ihnen, Bubenzow nicht begangen hat. Was ich Ihnen im Folgenden beweisen werde.«
    Es stellte sich heraus, dass alles Bisherige nur die Ouvertüre zur eigentlichen Verteidigung gewesen war. Die Zuhörer setzten sich raschelnd bequemer zurecht und machten sich auf ein langes Plädoyer gefasst, aber Lomejko trug seine Argumentation in weniger als einer Viertelstunde vor.
    »Meine Herren, Sie haben das endlose Plädoyer des Anklägers gehört, das eher dem Geheul von Hamlets Vater glich als einem seriösen juristischen Diskurs.«
    Im Umkreis des stellvertretenden Oberprokurors wurde beifällig gelacht.
    »Ich habe gesehen, meine Herren, dass dieses Plädoyer Sie leider beeindruckt hat. Dabei war es ausschließlich auf billiger Effekthascherei aufgebaut. Das Fehlen von Beweisen wurde durch literarisch aufgeputzte Banalitäten und Vermutungen kaschiert, hinter denen nichts steht. Ich möchte niemanden kränken, aber das war ein Musterbeispiel für provinzielle Schwülstigkeit in ihrer schlimmsten Form. In Moskau oder Petersburg ist derartiges Geschwätz längst aus der Mode. Dort hätte man unseren Ankläger einfach ausgepfiffen, wie es eine miserable Schauspielerleistung auch verdient.«
    Berditschewski lief rot an und wandte sich empört zu dem Vorsitzenden um, doch der machte ein ratloses Gesicht. Offenbar waren auch die Geschworenen verwirrt.
    »Und nun zur Sache.« Der Zauberer wechselte erneut den Ton, der nun nicht mehr giftig und mitleidig war, sondern trocken und sachlich. Jetzt sprach ein pedantischer Gelehrter, der wissenschaftlich fundierte und jedem auch nur halbwegs verständigen Menschen einleuchtende Fakten vortrug. »Meine Herren, ich werde Ihnen erzählen, wie es wirklich war. Ich kannte die Wahrheit von Anfang an, habe aber meine Mandanten angewiesen, Stillschweigen zu bewahren, weil die hiesigen Ermittler nicht unparteiisch sind, weil sie nach Rache dürsten und

Weitere Kostenlose Bücher