Akunin, Boris - Pelagia 01
Papieren.
Sodann wurden in langwieriger Prozedur die Geschworenen vorgestellt, und hier bewies der Verteidiger eine erstaunliche Härte, indem er entschieden zwei altgläubige Kaufleute, einen Ältesten der Syten und merkwürdigerweise sogar den Direktor des Gymnasiums ablehnte. Der Ankläger legte keinen Protest gegen solches Ansinnen ein, er gab mit seiner ganzen Haltung zu verstehen, dass die Zusammensetzung der Geschworenen keine Bedeutung habe, denn der Fall sei ohnehin klar.
In diesem Sinne hielt Berditschewski auch sein Plädoyer. Er begann erwartungsgemäß verworren und unbeholfen und schnäuzte sich gar beim zweiten Satz, aber dann fing er sich (besonders als ihm teilnahmsvoll applaudiert wurde) und sprach im Weiteren gewandt, glatt und zuweilen sogar beseelt.
Er hatte sich sorgfältig vorbereitet und die wichtigsten Passagen auswendig gelernt. Gegen Ende der zweiten Stunde legte er eine effektvolle Pause ein, zeigte mit drohend erhobenem Finger auf den Angeklagten und richtete die Augen himmelwärts, ohne lächerlich zu wirken, was kaum einem Staatsanwalt gelingt. Sein Plädoyer wurde viele Male von Beifall unterbrochen, und einmal erntete er sogar eine Ovation (als er aufs anrührendste über die verführte und verlassene Fürstin Telianowa sprach – hier konnten etliche Damen ein Schluchzen nicht unterdrücken).
Es war ein vorzügliches Plädoyer mit feinsten psychologischen Nuancen und umwerfenden rhetorischen Fragen. Wir hätten es gern ausführlich wiedergegeben, aber das würde zu viel Platz einnehmen, denn es dauerte mehr als drei Stunden. Auch fügte es den uns bereits bekannten, etwas unausgegorenen Schlussfolgerungen von Schwester Pelagia kaum etwas Neues hinzu, aber es verlieh ihnen mehr Gewicht, Überzeugungskraft und sogar Glanz. Mit Bedauern verzichten wir auf die ganze Psychologie und die Beispiele rhetorischer Kunst und beschränken uns auf die Hauptpunkte der Anklage.
Also, dem Angeklagten Bubenzow wurde zur Last gelegt: der Mord an dem Kaufmann Wonifatjew und seinem minderjährigen Sohn, der Mord an dem Petersburger Photokünstler Arkadi Poggio, der Mord an der Fürstin Naina Telianowa und ihrem Dienstmädchen Jewdokia Syskina und schließlich Widerstand bei der Festnahme, was die schwere Verwundung zweier Polizisten zur Folge hatte, von denen einer inzwischen verstorben war. Der Staatsanwalt bat das Gericht, Bubenzow zu unbefristeter Zwangsarbeit zu verurteilen und seinen Komplizen Selig, der zweifellos von den Verbrechen seines Vorgesetzten gewusst hatte und sich der Verhaftung durch Flucht hatte entziehen wollen, zu einem Jahr Gefängnis mit anschließender Verbannung.
Berditschewski nahm wieder Platz, er war heiser, aber zufrieden mit sich. Ihm wurde schöner Beifall gespendet, sogar von den angereisten Juristen, was ein erfreuliches Zeichen war. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und warf einen fragenden Blick auf den Bischof, der seinen Protege während des Plädoyers mehrfach durch ein Neigen des Kopfes und ein wohlwollendes Senken der Augenlider ermuntert hatte. Auch jetzt beantwortete er den Blick des Staatsanwalts mit einem billigenden Nicken. Ja, Berditschewskis Plädoyer war in der Tat gelungen.
Die Verhandlung wurde nach einer Pause fortgesetzt, die angereisten Rechtskundigen hatten sie genutzt, um den Fall zu erörtern. Die Mehrheit neigte zu der Ansicht, dass die Anklage vernünftig aufgebaut war und der hinterwäldlerische Staatsanwalt mit seinem Plädoyer dem Verteidiger eine harte Nuss zu knacken gegeben hatte. Doch Lomejko war nicht der Mann, der sich davon schrecken ließ, wahrscheinlich würde er mit seiner virtuosen Rhetorik brillieren und den Wortkünstler der Provinz in den Schatten stellen.
Aber das von allen anerkannte Genie des großen Anwalts bestand gerade darin, dass er die in ihn gelegten Erwartungen nicht erfüllte, sondern – übertraf.
Der Anfang seines Plädoyers war, gelinde gesagt, merkwürdig.
Lomejko trat nach vorn und stellte sich so hin, dass er den Zuschauern den Rücken zuwandte, den Geschworenen die Seite, das Gesicht aber dem Gericht, was ganz ungewöhnlich war. Er breitete halb verlegen, halb verdrossen die Arme aus und verharrte eine ganze Weile in dieser wunderlichen Haltung, ohne ein Wort zu sagen.
Im Saal, der schon zur Ruhe gekommen war, wurde getuschelt, Stühle knarrten, aber der Verteidiger schwieg noch immer. Er hob erst an zu sprechen, als der Vorsitzende befremdet auf seinem Stuhl herumrutschte und im Saal
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