Akunin, Boris - Pelagia 01
sicherlich die Umstände des Falls verzerrt hätten, wie das die beamteten Rechtsverdreher seit eh und je in unserem leidgeprüften Russland so gern tun.«
Den Beifall, mit dem der liberale Teil des Publikums diese Bemerkung würdigte, ließ Lomejko völlig unbeachtet. Er wartete, bis er verebbt war, und fuhr fort:
»Nacht, eine öde Landstraße. Durch graue Wolken schimmert unheilverkündend der Mond, es riecht nach Regen, Wind heult. Zwei Menschen gehen die Straße entlang: ein bärtiger, mit kreisrund geschnittenem Haar, der andere noch ein Kind. Der Mann hält den Knaben umfasst, dieser lehnt das blonde Köpfchen an die Schulter des Vaters und schlummert im Gehen. Ringsum Stille – kein Mensch, keine Bewegung, nur aus dem Wald schallt das wehmütige Rufen einer Eule . . .«
Lomejko bedeckte die Augen mit der Hand, und es hatte den Anschein, dass sich seinem Blick lebendige Bilder boten, die er nur wiederzugeben brauchte.
»Plötzlich taucht am Straßenrand eine verschwommene Gestalt auf. Der Unbekannte hebt die Hand, als brauche er Hilfe. Arglos fragt der Kaufmann: › Was willst du, guter Mann? ‹ Und da stößt ihm der Unbekannte ein Messer in die Kehle, wirft ihn zu Boden und zieht die blutige Wunde von Ohr zu Ohr. Das Kind, vor Entsetzen versteinert, sieht weinend, wie sein Vater getötet wird. Dann steht der Unbekannte auf, packt den Knaben bei den schmalen Schultern, blickt ihm in die schreckgeweiteten Augen und stößt ihm die scharfe Klinge in den dünnen Hals. Das Flehen um Gnade geht über in ein Röcheln, ein Glucksen . . . Warten Sie, das ist noch nicht alles!«, rief der Advokat, an die hysterisch aufschluchzenden Zuhörerinnen gewandt. »Ich habe Ihnen noch nicht das schlimmste Grauen beschrieben – wie der Mörder die leblosen Körper zerstückelt, die Köpfe abtrennt. Wie die Wirbel knacken, wie eine Fontäne schwarzen Bluts hochschießt. . . Und nun sehen Sie Wladimir Lwowitsch an.« Eine abrupte Wendung, eine ausgestreckte Hand. »Und sagen Sie ehrlichen Gewissens, können Sie sich den ehemaligen Gardefähnrich, den Synodalinspektor in der Rolle eines solchen Schlächters vorstellen? Natürlich nicht! Jetzt zu dem Mord an dem Photokünstler Poggio. Zu welchen Mutmaßungen sich der Staatsanwalt auch verstiegen hat, es liegt doch völlig auf der Hand, dass es sich um ein Verbrechen aus Leidenschaft handelt. Herr Bubenzow hat geraume Zeit in Ihrer Stadt verbracht. Sie hatten Gelegenheit, seinen Charakter und seine Angewohnheiten zu studieren. Sie kennen seine gleich bleibende Kälte und sein blasiertes Gehaben, das auf viele so abstoßend gewirkt hat. Halten Sie es wirklich für vorstellbar, dass dieser beherrschte Verstandesmensch mit einem Stativ zum Schlag ausholt, dass er in blinder Raserei Photographien zerreißt und Glasplatten zertrampelt? Sehen Sie ihn genauer an! Er ist ein feingliedriger Mensch, nicht breit in den Schultern, von zartem Körperbau. Hätte er denn die Kraft besessen, mit dem schweren Stativ einen Stoß von derart satanischer Wucht zu führen?«
Nach diesem ersten wesentlichen Argument (das Bisherige war lediglich Psychologie gewesen) begab sich Lomejko wieder in die Gefilde der Gefühle und fuhr in demselben strengen und unsentimentalen Ton fort.
»Na schön, meine Herren, lassen wir die Argumente der Logik und des Verstands vorerst beiseite, und wenden wir uns dem Herzen zu, dem Instinkt, der uns nie im Stich lässt. Es kommt vor, dass uns der Verstand beharrlich einredet: Das ist schwarz, schwarz, und wir sind schon drauf und dran, es zu glauben, aber dann kommt das Herz plötzlich zu sich, schüttelt den Kopf« (das Bild vom Herzen, das den Kopf schüttelt, war etwas zweifelhaft, aber alle waren so von seiner Rede hingerissen, dass sie nicht darauf achteten) »und ruft: › Aber wie kann es schwarz sein, wenn es doch weiß ist! ‹ Ich wende mich an die Damen im Saal. Viele von Ihnen haben mit Bubenzow gescherzt, gelacht und, ich bitte um Vergebung, kokettiert. Sie haben mit ihm musiziert, sind zum Picknick gefahren und dergleichen mehr. Halten Sie es wirklich für möglich, dass dieser Verehrer weiblicher Schönheit fähig gewesen wäre, der Fürstin Telianowa mit einem Stein den Schädel einzuschlagen? Betrachten Sie doch nur diesen entsetzlichen, groben Gegenstand.« Lomejko zeigte auf den wuchtigen Pflasterstein, der auf dem Tisch mit den Beweisstücken lag. »Können Sie sich Wladimir Lwowitsch mit einer solchen Waffe in der Hand vorstellen?«
»Nein!
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